Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2010
DOI Kapitel:
Wissenschaftliche Sitzungen
DOI Kapitel:
Gesamtsitzung am 24. Juli 2010
DOI Artikel:
Reinkowski, Maurus: Das Mittelmeer und die islamische Welt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0104
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
120 | SITZUNGEN

afrikanischen Küste über die Kanarischen Inseln bis in die Straße von Sizilien. Durch
die neu errichteten Hindernisse lassen sich die zur Auswanderung Entschlossenen
nicht abschrecken, sie sind nun aber gezwungen, längere und gefährlichere Routen
zu wählen. Ein entscheidendes Element in der europäischen Abwehrstrategie sind
Rücknahmeabkommen mit benachbarten Drittstaaten. Um einen Ausländer ohne
klaren Rechtsstatus vom europäischen Territorium ausweisen zu können, braucht
man ein Land, das ihn aufnimmt: Entweder ist dies das Herkunftsland oder — inzwi-
schen — das Land, das er zuletzt passiert hat. Von Ländern wie Senegal, der Ukraine
oder einigen Balkanstaaten erkaufte man sich mit diversen politischen „Vergünsti-
gungen“ die formelle Rücknahmegarantie der „Illegalen“. Seit Mai 2009 weist
Italien alle Flüchtlingsboote ab und übergibt die Migranten den libyschen Behör-
den - eine Verletzung des internationalen Seerechts und des völkerrechtlich festge-
schriebenen Verbots der Abschiebung von Personen, die Schutz vor Verfolgung
suchen.2
Wir sehen, die Versuche der Europäischen Union, in Gestalt der ENP oder der
Mittelmeerunion eine größere Gemeinschaft zu erzeugen und sich mit Hilfe von
Institutionen von FRONTEX abzugrenzen, wendet sich an und zugleich gegen die
islamischen Staaten an den südlichen Küsten des Mittelmeers. Wir sehen ebenso: Die
Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen versuchen, kommen
vor allem aus den islamisch geprägten Ländern des subsaharischen Afrikas.
Das Mittelmeer war schon immer eine Austauschregion, auch von demogra-
phischen Ungleichgewichten. In der Frühen Neuzeit noch war die islamische Welt
aufgrund ihrer Unterbevölkerung auf Zuwachs von Menschen angewiesen, gleich
welcher Herkunft. Allein, die Verhältnisse haben sich seit der zweiten Hälfte des
20. Jahrhundert grundlegend geändert. Wir beobachten derzeit em zum Teil drama-
tisches Sinken des Anteils der europäischen und europäischstämmigen Bevölkerun-
gen an der Weltbevölkerung, während der Anteil der Bewohner der islamischen Welt
steigt — von unter 5% um 1900 auf geschätzte 30% im Jahr 2025. Der natürliche
„Entlastungsraum“ des demographischen Drucks in den muslimischen Staaten Nor-
dafrikas, des subsaharischen Afrikas und des Nahen Ostens insgesamt ist Europa. Die
Furcht von einer „Arabisierung“ und „Islamisierung“ Europas gründet in diesen
Entwicklungen und Zahlen.
Jenseits von demographischen Umschwüngen stellt sich seit der Präsenz des
Islam im Mittelmeerraum ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. die Frage, was im Mittel-
meer die Anteile des Trennenden und Vereinenden sind.
Eine der erstaunlichen Eigenschaften des frühen islamischen Weltreiches ist
seine so rasche Ausbreitung nach Osten und Westen nach dem Tod Mohammads im
Jahr 632: Weniger als 100 Jahre später setzen islamische Heere 711 zur Eroberung der
iberischen Halbinsel an; zur selben Zeit erreichen sie die Grenzen Chinas. Ebenso

2 Die Angaben zur europäischen Politik der Migrationsabwehr stützen sich auf Alain Morice /
Claire Kodier: „Europas Mauern. Mobile Hindernisse in Wüsten und Meeren“, Le Monde diplo-
matique (deutschsprachige Ausgabe), 11. Juni 2010.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften