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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 24. Juli 2010
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Reinkowski, Maurus: Das Mittelmeer und die islamische Welt
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0105
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24. Juli 2010

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erstaunlich ist ihre sehr frühe Präsenz auf dem Mittelmeer, das dadurch zum weichen
Unterleib Europas wird. Bereits im Jahr 655 schlägt eine muslimische Flotte in der
sogenannten Schlacht der Masten ihren byzantinischen Gegner vor der kleinasiati-
schen Küste. Die zweimalige, und beide Male gescheiterte, Belagerung Konstantino-
pels in den Jahren 674—678 und wiederum 715—718 wäre ohne die Unterstützung
einer grossen arabisch-islamischen Flotte niemals möglich gewesen.
Das Mittelmeer mag zur Zeit der ersten großen islamischen Dynastie der
Umayyaden (661—750), die ihren Herrschaftssitz in Damaskus hatten, noch zum
Kerngebiet der islamischen Welt gehört haben. Schon mit der Verlagerung des Herr-
schaftssitzes unter den Abbasiden nach Bagdad wird das Mittelmeer im Gesamtmaß-
stab der islamischen Welt randständiger. Vergleicht man Karten, die die ungefähren
Umrisse der islamischen Welt in den Jahren um 900 und um 1500 angeben, so sieht
man, dass in den sechs Jahrhunderten dazwischen die islamische Welt immer „afri-
kanischer“, „südasiatischer“ und „südostasiatischer“ geworden ist.
Die periphere Lage des Mittelmeers in der islamischen Welt entspricht auch
der Sicht der Geologen: Im Verhältnis zur Masse der Erdrinde erscheint das Mittel-
meer nur als eine fadenförmige Zone; sie ist Teil des riesigen „altweltlichen
Trockengürtels“, der sich von Marokko über den Nahen Osten bis nach Innerasien
in der heutigen Mongolei und Westchina zieht. Dieser altweltliche Trockengürtel ist
(neben der vertikalen Ausbreitungsachse des Islams in Alnka) zugleich die Haupt-
achse der Expansion des Islams gewesen.
Demnach ist das Mittelmeer nur eine Region unter vielen Regionen der isla-
mischen Welt. Was also wäre die Besonderheit des Mittelmeers außer der Tatsache,
dass es em elementarer Raum der europäischen Geschichtslandschaft gewesen ist?
Die Antwort könnte lauten, dass für viele Jahrhunderte das Mittelmeer der Raum
eines besonders auffälligen Nebeneinanders von Konfrontation und Koexistenz
gewesen ist. Als umfassender Begriff für verschiedenste historische Konstellationen
des Miteinanderlebens, des Nebeneinanderlebens und des Gegeneinanderlebens lässt
sich das Wort Konvivialität verwenden. Der so verwendete Begriff der Konvivialität
kommt damit dem spanischen Begriff der convivencia nahe, also der Erfahrung des
Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen im frühen islamischen Spani-
en und im Spanien der Reconquista, mündend in den Zusammenbruch der convi-
vencia vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert.
Erfahrungen des konflikthaften Zusammenlebens sind eine Grundtatsache
menschlicher Gesellschaften. Wiederum stellt sich die Frage: Was ist das Besondere
an dem hier behaupteten Faktum einer mediterranen Konvivialität? Es ist die Eigen-
schaft des Mittelmeers, seit dem 7. Jahrhundert n. Chr. das gleichzeitige Ziehen und
Überschreiten von Grenzen als selbstverständlich gekannt zu haben. Es war mit sei-
ner grossen Dichte von Städten und Hafenstädten ein intensiv genutzter Handels-
und Kommunikationsraum. Zudem entfalteten sich die Phänomene der Konvivia-
lität im Mittelmeerbecken entlang der Ubergangszonen zwischen der islamischen
Welt und der europäisch-christlichen Welt, mit einer umfangreichen jüdischen
Bevölkerung in beiden Räumen und mit umfangreichen christlichen Bevölke-
rungsgruppen im islamisch geprägten Nahen Osten.
 
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