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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Mitarbeitervortragsreihe "Wir forschen. Für Sie"
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Haidle, Miriam N.: „Macht Euch die Erde untertan“: Tierisches und menschliches Werkzeugverhalten
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0151
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10. Juni 2010 I 167

Kanincheneulen locken Mistkäfer mit sorgsam ausgelegten Dungködern; Neukale-
donische Krähen stellen für das Angeln von Insekten verschiedene Hakengeräte aus
Zweigen und Blättern her. Elefanten besprühen sich gezielt mit Wasser zur Kühlung
des Körpers; Nacktmulle wurden in Gefangenschaft gelegentlich beim Gebrauch
eines Atemschutzes bei der Herstellung ihrer Baue beobachtet; Japanmakaken for-
men Schneebälle zum Spiel oder als Aussichtsplattform. Als Klassiker des tierischen
Werkzeuggebrauchs können Seeotter betrachtet werden: Sie lösen unter Einsatz von
Steinen Muscheln und Seeigel vom Grund und schlagen diese auf. Erst kürzlich
in die Gemeinschaft der bekannten Werkzeugnutzer aufgenommen wurde eine
Gruppe von Tümmlern vor Westaustralien, die Schwämme nutzt zum Schutz der
Nase bei der Futtersuche, sowie Westliche Gorillas, die Stöcke als Gehhilfe bei
Durchquerung eines Tümpels und zum Heranholen von Nahrung verwenden.
Neben dem Menschen sind die großen Menschenaffen Orang-Utan und
Schimpanse die ausgeprägtesten Nutzer und Hersteller von Geräten. Eine aktuelle
Zusammenstellung des Werkzeugverhaltens von Orang-Utans ergab 41 unterschied-
liche Werkzeugverhalten in mindestens sechs verschiedenen Kontexten, 29 verschie-
dene Werkzeugtypen, den Gebrauch von mindestens neun verschiedenen Rohmate-
rialien und einige Modifikationsarten. Im Vergleich dazu ist das Werkzeugverhalten
von Schimpansen noch variabler und flexibler: 93 unterschiedliche Werkzeugverhal-
ten konnten aktuell erfasst werden in mindestens zwölf verschiedenen Kontexten,
bei nur 13 unterschiedlichen Werkzeugtypen unter Verwendung von mindestens 17
verschiedenen Rohmaterialien und vielfältigen Modifikationsarten. Schimpansen
nutzen auch Werkzeugsets, Werkzeuge zur Jagd, und Werkzeuge zum Ausgraben von
Wurzeln/Knollen, alles Kategorien, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts den Men-
schen vorbehalten schienen. Die Kenntnisse über das tierische Werkzeugverhalten
nehmen ständig zu. Nach heutigem Wissen nutzen einige Weichtieren und Insekten,
Vögel und Säugetiere Geräte und stellen sie zum Teil auch her. Viele Werkzeuge sind
aus unterschiedlichen organischen Materialien, aber auch Stein ist em häufig ver-
wendeter Rohstoff. Die Nutzung von Werkzeug tritt in verschiedenen Kontexten
auf u.a. bei der Verteidigung, der Körperpflege, dem Nahrungserwerb, im Spiel und
bei der Fortbewegung. Einzelne Werkzeugverhalten können sogar als Kulturelemen-
te angesprochen werden. Als Kriterien dafür gelten, wenn die Verhaltensweisen nicht
ausschließlich ökologisch bedingt sind, von mehreren Gruppenmitgliedern geteilt
werden, ihr Fortbestand über Generationen hinweg beobachtet werden kann und sie
nicht genetisch, sondern sozial übertragen werden. Hinweise darauf gibt es im Werk-
zeugverhalten von Schimpansen, Orang-Utans und Neukaledomschen Krähen.
Jüngste Ausgrabungen eines Nussschlagplatzes im Tai-Wald, Elfenbeinküste, belegen
sogar 4300 Jahre alte Traditionen bei Schimpansen.
Wie unterscheidet sich aber das Tierwerkzeugverhalten von menschlichen
Artefakten? Ein Ansatz dazu bietet die Untersuchung der erweiterten Problem-
Lösung-Distanz. Bei seinen Experimenten zur Problemlösung bei verschiedenen
Tierarten griff Wolfgang Köhler auf Teneriffa in den Jahren 1914—1917 erstmals die-
ses Merkmal auf. Jedes Werkzeugverhalten beinhaltet eine Erweiterung der Problem-
Lösung-Distanz: Im Gegensatz zur direkten Problemlösung wie dem Fressen von
 
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