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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Veranstaltungen
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Heidelberger Akademie-Vorlesung
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Kasper, Walter: Das Christentum im Dialog der Religionen
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0178
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194 | VERANSTALTUNGEN

Das eigentliche Thema des interreligiösen Dialogs ist also nicht etwa die Frage,
ob Frauen verschleiert in der Öffentlichkeit auftreten dürfen. Diese Frage mag man
in Parlamenten nach Gesichtspunkten einer freiheitlichen Verfassungsordnung und
des gesellschaftlich Zuträglichen diskutieren und entscheiden. Eine theologische
Frage ist das nicht. Im theologischen Gespräch mit den Religionen geht es um die
Gottesfrage und was sie für das Menschenbild und für die menschliche Gesellschaft
bedeutet.
Der eine Gott — die eine Menschheit
Die Gottesfrage mag vielen Zeitgenossen als weit von den Realitäten des Lebens
wegliegende Frage erscheinen. Dass sie das nicht ist, kann man jedoch bereits auf der
ersten Seite der Bibel finden. Dort ist von dem einen Gott die Rede, der Schöpfer
und Vater aller Wirklichkeit und aller Menschen ist. Der eine Gott begründet die
gottähnliche Würde jedes Menschen ganz unabhängig von seiner ethnischen, kultu-
rellen und religiösen u.a. Zugehörigkeit (Gen 1,27). Er lässt die Sonne aufgehen und
Regen fallen über Guten und Bösen (Mt 5,43 f). Der eine Gott begründet die Ein-
heit des Menschengeschlechts. Diese in dem einem Schöpfer begründete Einheit der
Menschheitsfamilie ist die letzte Begründung für gemeinsame menschliche Werte
und für universale menschliche Solidarität. Die Einheit der Menschheitsfamilie
begründet auch Zusammenarbeit für Gewaltfreiheit, Toleranz, gegenseitigen
Respekt, für Religionsfreiheit, für Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit und Frieden, für
die gleiche Würde von Mann und Frau, für Ehrfurcht vor dem Leben und für die
Bewahrung der Schöpfung.
Die Frage, ob, wer und wie Gott ist, hat also konkrete Konsequenzen. Das gilt
auch wenn wir auf die spezielle Heilsgeschichte schauen, die mit Abraham beginnt.
Abraham wird zwar aus den Völkern herausgerufen, aber er wird berufen, ein Segen
zu sein für alleVölker (Gen 12,1; 18,18 u.a.). Am brennenden Dornbusch offenbart
sich Gott dem Mose als Gott, der mit seinem Volk auf seinem Weg durch die
Geschichte ist (Ex 3,6. 14.16). Er ist kein Lokalgott oder em Nationalgott, sondern
ein Weltgott und ein Gott des Weges. Er ist überall dort präsent, wohin das Volk
kommt; er ist ein Gott der Menschen und gegenwärtig, wo Menschen sind, die ihn
suchen. Nach der prophetischen Verheißung wird er am Ende alleVölker sammeln
und einen universalen Frieden (schalom) heraufführen (Jes 2,2-5; Mich 4,1-3).
So konnte das Christentum auf der Grundlage desjüdisch-christlichen Mono-
theismus das Erbe des antiken Humanismus und des römischen Rechts aufnehmen
und heute zunehmend auch das legitime Erbe der neuzeitlichen Aufklärung. Aus
diesen drei Wurzeln - antiker Humanismus und römisches Recht, jüdisch-christli-
che monotheistische Tradition und neuzeitliche Aufklärung — ist unsere europäische
Kultur in einem langen Prozess hervorgegangen, der sich geschichtlich immer wie-
der neu als integrationsfähig erwiesen hat. Unsere europäische Kultur mit ihren
Rechtsformen, vor allem den allgemeinen Menschenrechten, ist keine statische
Größe sondern hat sich schon oft als wandlungs- und integrationsfähig erwiesen. Es
hat auch germanische und slawische und, vor allem seit der Aufklärung, auch islami-
 
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