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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Antrittsreden
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Seibel, Wolfgang: Antrittsrede von Herrn Wolfgang Seibel an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0190
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206 | ANTRITTSREDEN

kannte, auch Rudolf Smend, und insbesondere Lorenz von Stein und den, wie er es
nannte, „arbeitenden Staat“, der auf der Verflechtung von Staat und Gesellschaft
aufruhte. Und dieser „arbeitende Staat“ heißt bei von Stein bekanntlich schlicht
„Verwaltung“.
Ich erinnere mich an das leise Prickeln, das mich durchfuhr, wenn ich in der
Universitätsbibliothek, wo ich im Lesesaal meine Staatsexamensarbeit über Staats-
theorie — natürlich: bei Marx und Engels — schrieb, an der Doppelglastür vorbeilief,
die zur Bibliotheksleitung führte. Uber dieser Tür prangte in ziemlich großen Buch-
staben das Wort „Verwaltung“. Und ich hatte das Glück, jeden Morgen an dieser
Tür vorbeilaufen und dem Schriftzug „Verwaltung“ einen versonnenen Blick gön-
nen zu dürfen. Ich bin nicht der einzige Wissenschaftler mit emotionaler Bindung an
ein Objekt, das in der Wahrnehmung schon der nächsten Angehörigen — ich denke
hier an das verständnislose Kopfschütteln meiner späteren Frau — als Inbegriff der
Langeweile oder, wie unsere Kinder sagen würden, als absolut uncool erscheint.
Konsequenterweise habe ich dann ein Aufbaustudium in Verwaltungswissen-
schaft gemacht und das brachte mich zum ersten Mal in diese Gegend mit dem
charakteristischen pfälzisch-nordbadischen Zungenschlag, der, um es vorsichtig
zu sagen, für den ursprünglich Norddeutschen etwas gewöhnungsbedürftig ist.
Ich meine Speyer und die dortige Hochschule für Verwaltungswissenschaften, wo
ich nach dem Marburger Staatsexamen für das höhere Lehramt nun noch einen
Magisterabschluss erwarb. Das war im Jahre 1979 und in bildungstechnischer Hin-
sicht das Schlüsselereignis meiner späteren Karriere. Denn mit meinem verwaltungs-
wissenschaftlichen Magister wurde ich Assistent an der damals wenige Jahre alten
Gesamthochschule — heute natürlich: Universität — in Kassel, wo ich mit dem Kon-
stanzer Soziologen Jürgen Reese einen Chef hatte, der unglaublich Druck machte,
dass ich doch nun endlich, im vorgerückten Alter von 26, mit meiner Doktorarbeit
fertig werden müsse, der mir dafür aber alle Freiräume ließ. Und das auch noch, als
ich dann tatsächlich promoviert und auf dem Weg zur Habilitation war. Jürgen Reese
möchte ich heute meine Reverenz erweisen, denn ohne die von ihm verkörperte
Mischung aus nervenbelastenden Höchstforderungen und grenzenloser Toleranz
wäre meine Karriere anders verlaufen, wenn sie denn überhaupt so früh begonnen
hätte.
So war ich - nach der Promotion zur Ideengeschichte der Verwaltungswissen-
schaft (was sonst?) - mit 34 Jahren habilitiert, hatte bereits ein paar Tage vor dem
Habilitationsvortrag eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Konstanz in der
Tasche und ein Jahr später meinen Ruf auf den Lehrstuhl, den ich heute noch
innehabe als Nachfolger von Thomas Eilwein. Irgendwie hatte es sich gelohnt, die
Sache mit Gramsci und der Verwaltung.
Politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung betrieb man natürlich auch
schon vor 20 Jahren nicht so, dass man dem Idealtypus der ‘legalen Herrschaft mit
bureaucratischem Verwaltungsstab’ im Sinne Max Webers folgte und die Verwaltung
als ein technisches Gehäuse betrachtete, dessen Räderwerk nach Möglichkeit im
Interesse des Bürgers und Steuerzahlers gut geölt sein sollte, wozu dann Verwal-
tungswissenschaft mehr oder weniger intelligente Beiträge zu leisten hätte. In mei-
 
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