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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Antrittsreden
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Seibel, Wolfgang: Antrittsrede von Herrn Wolfgang Seibel an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0192
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208 | ANTRITTSREDEN

absorbierte jedoch das politische Konfliktpotential, das die nach der Währungsunion
vom 1. Juli 1990 unvermeidliche wirtschaftliche Depression mit Massenentlassungen
größten Umfangs aus immer noch staatlichen Betrieben in Ostdeutschland erzeugen
musste.
Seit dem Ende der 1990er Jahre beschäftigt mich aber noch ein Verwal-
tungsthema, das auf ganz andere Weise mit den deutschen Verhältnissen verknüpft ist.
Mich hatte immer der Beitrag der Verwaltung und der spezifischen Beziehungen
zwischen Politik und Verwaltung zum Massenmord an den Juden während des Zwei-
ten Weltkriegs interessiert. Die Volkswagenstiftung bewilligte mir großzügig Mittel
für em umfangreiches Forschungsprojekt über den Zusammenhang von Politik,
Verwaltung und Massenverbrechen am Beispiel der Judenverfolgung in den von
Deutschland besetzten Ländern in Westeuropa zwischen 1940 und 1944. Auch hier
geht es um die Aufhellung eines Paradoxons, weil die gängige Vorstellung, der Holo-
caust sei das Ergebnis des Zusammenspiels aus mörderischer Ideologie und hoch
effizienten Staats-, also: Verwaltungsstrukturen gewesen, keiner Prüfung standhält.
Tatsächlich war die nationalsozialistische Verwaltung aufgrund der Doppelstruktur
von Staat und Partei einigermaßen chaotisch und namentlich in den besetzten West-
gebieten, wo es auf die Sicherung des militärischen Hinterlandes und vor allem auf
die wirtschaftliche Ausbeutung für die deutschen Kriegsanstrengungen ankam, war
die Teilung der Macht mit Zugeständnissen an die inländischen Instanzen unver-
meidlich. Dieses Forschungsunternehmen konnte ich dann neuerlich in Princeton
am Institute for Advanced Study und kurze Zeit später am Wissenschaftskolleg zu
Berlin verfolgen. Es ist noch nicht abgeschlossen.
Mein erstes eigenes Buch dazu - einige Qualifikationsschriften junger Leute
sind schon erschienen - kommt in diesem Herbst heraus. Der Titel ist „Macht und
Moral. Die ,Endlösung der Judenfrage’ in Frankreich“ und es legt dar, dass politische
Verbrechen wie andere Verbrechen eine Angelegenheit von Tätern und Komplizen
sind, dass aber beträchtliche Spielräume zur Verhinderung des Verbrechens bestehen.
Diese Spielräume müssen ausgenutzt werden. Dazu müssen Menschen sowohl über
moralische als auch über politische Urteilskraft verfügen. Moralisch urteilende Men-
schen müssen in der Lage sind, als politische, also machtakkumulierende Akteure
aufzutreten. Interessanterweise trifft dies in Frankreich auf hohe Vertreter des katho-
lischen Klerus zu, denen es zu verdanken ist, dass die Kollaborationsregierung unter
Petain die Mitwirkung an den deutschen Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden
ab dem Spätsommer 1942 immer mehr einschränkte. Das passt nicht in jedes
Klischee über die Beziehungen zwischen organisiertem Katholizismus und Juden-
tum während des Holocaust, und es ist auch tatsächlich eine komplexe Geschichte
ohne klare Grenzen zwischen Gut und Böse, gehörte doch die Kirche zu den tra-
genden Säulen des autoritären Vichy-Regimes, dessen anti-semitischer Politik hohe
Kirchenvertreter anfangs ausdrücklich Verständnis entgegenbrachten — bevor Ver-
nunft und Moral sich durchsetzten und tatsächlich die politischen Machtverhältnis-
se beeinflussten.
Jetzt haben Sie em ungefähres Bild von dem, wo ich herkomme und was mich
ticken macht. Es freut mich außerordentlich, Herr Präsident, meine sehr verehrten
 
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