Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

Zitierlink: 
https://digi.hadw-bw.de/view/jbhadw2000/0043
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
54

Jahresfeier

ten in der Folge eine Reihe von Gedanken auf, die retrospektiv als Vorläufer der Dar-
win’schen Thesen gesehen werden konnten. Das entscheidende Neue am Gedanken-
gang Darwins war jedoch die Konsequenz, mit der er seine Thesen auf den gesamten
lebenden Kosmos unter Einschluß des Menschen übertrug und darüber hinaus den
Lebenskampf in der Anpassung an die sich verändernde Umwelt als Ausleseprinzip
für die am besten angepaßten Individuen erkannte. Später erfaßte er noch die Partner-
wahl als ein weiteres wichtiges Ausleseprinzip.
Fast zur gleichen Zeit wie Darwin hatte der Augustinerpater Gregor Mendel im
Klostergarten in Brünn Kreuzungsversuche an Gartenerbsen unternommen, die er im
Jahre 1865 in den Berichten der Naturgeschichtlichen Vereinigung von Brünn unter
dem Titel „Versuche an Pflanzenhybriden“ veröffentlichte. Sie blieben dort über 35
Jahre unentdeckt und Mendel, der von 1822 bis 1884 lebte, blieb die Anerkennung für
seine bahnbrechenden Leistungen zeitlebens versagt. Mendel hatte ein neues Konzept
für die Vererbung von Eigenschaften entwickelt und gezeigt, daß unterschiedliche
Eigenschaften von Generation zu Generation in einer vorhersagbaren Weise weiter-
vererbt werden. Die von ihm erarbeiteten Mendel’schen Gesetze sollten über gut
100 Jahre die Grundlage der sich im zwanzigsten Jahrhundert rasch entwickelnden
Vererbungslehre werden.
Die Zeitgenossen Darwin und Mendel, die sich weder kannten noch voneinander
und von ihren wissenschaftlichen Arbeiten wußten, haben die Grundsteine zum ver-
mutlich tiefgreifendsten Wandel in unserer Weitsicht und in unserem Eigenverständ-
nis gelegt, dessen Auswirkungen uns erst heute - über die immens rasch fortschrei-
tenden Entwicklungen der Molekularbiologie - in seinen Konturen bewußt geworden
sind oder aber bewußt werden müssen.
Die Mendel’schen Gesetze hatten nach ihrer Wiederentdeckung durch Correns, de
Vries und Tschermack zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts vergleichsweise gerin-
ge Probleme, sich durchzusetzen. Wurde hier doch wissenschaftlich begründet, was
alle zu wissen glaubten: Das Gleiches aus Gleichem entsteht und die Kinder eines
Elternpaares mit blauen und braunen Augen eine größere Chance haben, braunäugig
zu sein. Die molekularen Grundlagen der Vererbungslehre hatten nach der Auf-
klärung der Struktur der Erbsubstanz, der Desoxyribonukleinsäure oder DNS, durch
Watson und Crick im Jahre 1953, verhältnismäßig rasch abgeklärt werden können.
Einige „Störfaktoren“, die einer generellen Anwendbarkeit der Mendel’schen Regeln
entgegen zu stehen schienen, ließen sich durch „springende Gene“ (Transposonsf
durch Chromosomenrekombinationen, durch den Einbau fremden Erbguts und
durch Veränderungen des Erbguts an spezifischen Stellen durch Anlagerung von
Methylgruppen {„genetisches Imprinting“) molekularbiologisch elegant erklären.
Ganz anders stellte sich die Situation für die Darwinsche Lehre dar: er postulierte
gerade die Veränderbarkeit der Arten, deren stetige Evolution, die Ausmerzung lebens-
untüchtiger Arten beim Wandel der Umweltbedingungen und die Anpassung durch
genetische Veränderungen, deren Grundlagen ihm noch unbekannt bleiben mußten.
Die Entstehung des Menschen aus tierischen Vorstufen - das Wort „Affe“ wurde im
vergangenen Jahrhundert meist sorgfältig vermieden, um weniger emotional argumen-
tieren zu können - war ein unerhörtes Postulat. Die Vorstellung einer Lebenskette, die
Pflanzen und Tiere umfaßte und deren gemeinsame Entwicklung aus einfachsten Vor-
stufen, die Evolution komplexer Organe und Sinnesfunktionen, des Auges, des
Gehirns, des Gehörs, des Riechens - stellt bis heute für viele eine überwindbare Bar-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften