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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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36

Sitzungen

3. Herr Frank Kolb hält seine Antrittsrede.
Herr Präsident, meine Damen und Herren!
von dem Voreifeldorf Merzbach, in dem ich 1945 geboren wurde, konnte man nachts
die Lichter des Hotels auf dem Petersberg sehen. Über die politische Bedeutung die-
ses Gebäudes für die junge Bundesrepublik erfuhr ich während der 10 Jahre, die ich in
Merzbach verbrachte, jedoch nichts. Selbst stammte ich aus einfachen Verhältnissen,
und in dem 500 Seelen-Dorf, das noch nicht über eine Kanalisation verfügte, lebten
vor allem Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter. Besondere Bildungserlebnisse gab
es weder zu Hause noch in der dreiklassigen Volksschule. Es war eine karge Kindheit,
in der ich in den weitläufigen Wäldern und Wiesen der hügeligen Landschaft herum-
tobte, mich als Meßdiener oft frühmorgens durch Schnee oder Regen zur drei Kilo-
meter entfernten Pfarrkirche durchschlug und in der jugendlichen Dorfbande als Waf-
fenträger mitmachen durfte. Damals lernte ich, was Identitätsstiftung bedeutet.
Als ich die Aufnahmeprüfung zum Humanistischen Gymnasium der vier Kilome-
ter entfernten Kleinstadt Rheinbach bestand, endete gleichzeitig meine Meßdiener-
Karriere in einer Katastrophe. Ich stürzte im feierlichen Hochamt mitsamt dem
schweren Meßbuch quer durch den Altarraum und verstreute die locker sitzenden
Blätter des Buches über denselben - zur Freude des johlenden Publikums und ein-
mündend in die recht banale Prophezeiung des derben Dorfpfarrers, aus mir könne
bestenfalls ein zerstreuter Professor werden.
Rheinbach, in das wir nach einiger Zeit umsiedelten, war damals ein verschlafenes
Städtchen mit erstaunlich vielen Schultypen und einem großen Zuchthaus, das zumin-
dest in den 70er Jahren in den Fernsehnachrichten als zeitweilige Heimstatt des DDR-
Spions Guillaume Berühmtheit erlangte. Die Gegend war so katholisch, daß der ein-
zige Protestant in unserer Klasse nur ‘Ketzer’ hieß und die CDU bei Wahlen mehr als
80 % der Stimmen erhielt. Als Adenauer mir bei einer Wahlkampfveranstaltung
höchstpersönlich eine Tafel Schokolade schenkte, war auch mein politischer Horizont
zunächst einmal fest umrissen.
Diese enge Welt vermittelte eine gewisse Geborgenheit und bot darüber hinaus
Bewährungsmöglichkeiten im Kampf ums Überleben. Unser Gymnasium, das mich
wesentlich geprägt hat, kannte noch keine Koedukation - für die Mädchen gab es ein
von Nonnen geleitetes Lyzeum, das u. a. meine spätere Ehefrau besuchte. Ein rigoro-
ses Ausleseverfahren half unserer Schule, ihren einklassigen Zug zu bewahren; die
Atmosphäre war rauh und nur gelegentlich herzlich, das gesellschaftliche Milieu ziem-
lich homogen: Als respektabel galt bereits der Sprößling des Schneidermeisters, und
die soziale Pyramide gipfelte im Sohn eines Rechtsanwalts.
Ich hatte keine ganz leichte Jugend. Nicht nur mein Taschengeld mußte ich mir früh
durch harte Arbeit beim Bauern, im Bauhandwerk und in der Fabrik verdienen. Als
Sportler war ich karriereverdächtig, aber in meiner geistigen Entwicklung eher ein
Spätzünder. Der Sohn des Rechtsanwalts las im Alter von 14 Jahren Platon; ich emp-
fand einen längeren Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar über
religiöse Fragen als ausgesprochen störend für die Dramaturgie. Der Knoten platzte in
der Oberstufe. Ein vorzüglicher Geschichtsunterricht und ein vielseitig gebildeter
Griechisch- und Lateinlehrer, mit dem wir u.a. Unterrichtsgespräche in den alten
Sprachen führten, begeisterten mich für jene Fächer, die ich später studierte.
 
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