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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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9. Dezember 2000

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vermute, daß eine Zeit kommen wird, wo man sich an diese Gedanken erinnern und
neue Versuche machen wird, sie bei der politischen Gestaltung der Gesellschaft zu
berücksichtigen.
Als ich 1966 in Bonn mein Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium ablegte,
hatte ich keine ausgeprägten Pläne. Am stärksten war wohl mein Interesse an Musik.
Ich schwankte aber zwischen einem Studium der Theologie und der Mathematik. Von
letzterer wußte ich eigentlich nichts, und daß ich dieses Fach gewählt habe, liegt sicher
nicht an einem profilierten Interesse. Wahrscheinlich war der Hauptgrund, daß allein
die Erwähnung der Alternative „Mathematik“ zu einer gewissen Bewunderung und
Unterstellung von Intelligenz führte, etwas, das mir sehr gut tat. Der Einstieg in die
Mathematik fiel mir sehr schwer, alles war für mich neu, ich verstand fast nichts. Ich
mußte mir jeden Schritt zäh erarbeiten und konnte es schließlich in der vorgesehenen
Zeit wagen, mich zum Vordiplom zu melden. Auf Anraten eines Studenten höheren
Semesters ließ ich mich von Herrn Hirzebruch prüfen, bei dem ich bis dahin keine
Vorlesung gehört hatte. Dieser Rat erwies sich für meine mathematische Entwicklung
als Glücksfall. Ich habe in seiner Arbeitsgruppe das Diplom gemacht und 1972 bei
Herrn Hirzebruch promoviert. Meine Dissertation war schwach - und das war mir
schon damals klar. Ich hatte sie gar nicht beenden wollen und mich entschlossen, mit
der Mathematik aufzuhören und die 2. Alternative, nämlich Theologie zu studieren
(Musik war im hohen Alter von 24 Jahren keine Alternative mehr). Herr Hirzebruch,
dem ich diesen Entschluß mitgeteilt hatte, war sehr gnädig und schlug vor, die Pro-
motion mit dem Wenigen, was ich herausbekommen hatte, doch noch abzuschließen.
Von 1972 bis 1976 studierte ich evangelische Theologie, teilweise bei meinem Vater
in Bonn. Finanziell ging es mir dabei sehr gut, da Herr Hirzebruch mir eine Assisten-
tenstelle angeboten hatte, bei der meine Hauptaufgabe war, bei seinen Lehrveranstal-
tungen mitzuwirken. Ob er dabei einen Hintergedanken hatte, weiß ich nicht. Tatsa-
che ist, daß ich mich nach einer langen Pause, die man im nachhinein vielleicht als
kreativ bezeichnen kann, im Jahr 1975 dabei ertappte, wie ich über Mathematik nach-
dachte. Befreit von dem Druck, etwas beweisen zu müssen, habe ich mir eine Frage
vorgenommen, von der ich erst später erfuhr, daß sich sehr starke Mathematiker an ihr
versucht hatten. Ich hatte eine naive Idee, wie man das Problem lösen könnte, und
innerhalb von wenigen Wochen Erfolg. Dies war der Beginn meines Weges zurück zur
Mathematik. Aus der Lösung des oben erwähnten Problems wurde meine Habilitation.
Das Resultat wurde offensichtlich sehr positiv aufgenommen, denn schon vor
Abschluß der Habilitation erhielt ich 1976 einen Ruf als wissenschaftlicher Rat und
Professor H3 nach Wuppertal. Zwei Jahre später erhielt ich einen Ruf auf eine Cd-
Stelle nach Mainz. Seit knapp 7 Jahren arbeite ich in Nebentätigkeit für das Mathema-
tische Forschungsinstitut Oberwolfach.
Nun habe ich kurz dargestellt, auf welchen Umwegen ich zur Mathematik gekom-
men bin, aber nichts über die Inhalte gesagt. Die inhaltliche Frage kann man aus ver-
schiedenen Blickwinkeln beantworten, aus der Nähe oder der Ferne. Aus weiter Ferne
betrachtet - und das scheint mir für den heutigen Anlaß der richtige Blickwinkel zu
sein - lautet meine Antwort: Ich denke über Fragen nach wie, was ist ein Raum und
wie erkennt man einen Raum. Mein mathematisches Spezialgebiet heißt „Topologie“,
also Lehre vom Raum. Die Frage, was ein Raum ist, ist wohl so alt wie die Wissen-
schaft überhaupt. Früher hätte man wohl eher formuliert: was ist der Raum, denn man
ging von der Vorstellung eines absoluten Raumes, eines Raumes an sich, aus. Philo-
 
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