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Sitzungen
Ich studierte an der Technischen Hochschule München - damals hatte sie sich noch
nicht die Bezeichnung Technische Universität zugelegt. Sehr vorteilhaft war es, dass
dort zu jener Zeit eine neue Generation von Professoren antrat - es seien nur Heinz
Maier-Leibnitz und Wilhelm Brenig genannt. Bei Brenig schrieb ich meine Diplomar-
beit über ein Thema aus dem Bereich der Kernphysik und anschließend meine Dok-
torarbeit über ein festkörper-physikalisches Thema aus dem Bereich der kritischen
Phänomene.
Unter kritischen Phänomenen versteht man das Verhalten in der Umgebung des
(kritischen) Punktes, an dem mehrere koexistierende Phasen eine einheitliche werden.
Beispiele sind der Endpunkt der Trennlinie von Gas und Flüssigkeit, an dem die Dif-
ferenz der Dichte der beiden Phasen verschwindet, und die Curie-Temperatur eines
Ferromagneten, an dem seine Magnetisierung, die verschiedene Richtungen einneh-
men kann, verschwindet. Man bezeichnet diese Differenz der Dichten bzw. die
Magnetisierung als Ordnungsparameter. Schon zur Jahrhundertwende gab es genaue
Messungen und Theorien. Nur stimmten sie nicht überein. Die Theorie ergab für das
Verschwinden des Ordnungsparameters ein Gesetz mit der Quadratwurzel aus der
Temperaturdifferenz zur kritischen Temperatur, die Messungen waren viel besser in
Einklang mit der dritten Wurzel der Temperaturdifferenz. Diese Diskrepanz blieb
über ein halbes Jahrhundert bestehen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass in diesem
Bereich große Fluktuationen auftreten, die theoretisch schwer beherrschbar sind.
Im Umkreis dieser Fragestellungen arbeitete ich am Max-Planck-Institut für Phy-
sik in München und an der Außenstelle des Instituts Laue-Langevin in Gacthing. Es
war ein außerordentlich faszinierendes Gebiet. Gab es doch numerische Rechnungen,
vor allem Reihenentwicklungen, die viele Details zu Tage brachten. Es schälten sich
auch phänomenologisch sehr interessante Ergebnisse heraus. Doch fehlte noch ein tie-
feres Verständnis für das Zustandekommen des kritischen Verhaltens. Der eigentliche
Durchbruch kam mit der Theorie von Ken Wilson, der die Idee der Skaleninvarianz,
die von Leo Kadanoff phänomenologisch begründet worden war, in ein Verfahren
umsetzte, das explizite Berechnungen erlaubte. Diese Skaleninvarianz besagt, dass man
am kritischen Punkt alle Größen - bei Magneten zum Beispiel die Abstände und die
Magnetisierung - mit geeigneten Faktoren versehen kann, ohne dass sich die Eigen-
schaften des Systems dadurch verändern.
Diese Theorie erlaubte viele Rechnungen und Untersuchungen. Zu dieser Zeit war
ich für ein Jahr an der Brown University bei Leo Kadanoff und meine Vorkenntnisse
erlaubten mir, auf diesem Gebiet mitzuarbeiten.
Auch Eberhard Riedel, mit dem ich schon vorher über kritische Spindynamik und
eine phänomenologische Theorie des Übergangs (crossover) vom isotropen zum
schwach anisotropen Magneten gearbeitet hatte, trat mit mir wieder in Verbindung,
um mit der Wilson-Theorie das trikritische Verhalten zu untersuchen. Nach einer
intensiven anfänglichen Diskussion arbeiteten wir getrennt, kamen aber fast zur glei-
chen Zeit zur Lösung. Unsere unterschiedlichen Schreibstile überbrückten wir, indem
jeder von uns seine Arbeit unter beider Namen veröffentlichte.
Zurück in Deutschland, diesmal am Festkörper-Institut an der KFA Jülich, habili-
tierte ich mich an der Universität zu Köln. Kurz danach erreichte mich der Ruf nach
Heidelberg, den ich gerne annahm. Die Notwendigkeit der Habilitation ist in den
Naturwissenschaften umstritten. Einen guten Nebeneffekt hat sie: Man ist gezwun-
gen, Vorträge über einige Themen, die nicht dem eigenen engeren Forschungsgebiet
Sitzungen
Ich studierte an der Technischen Hochschule München - damals hatte sie sich noch
nicht die Bezeichnung Technische Universität zugelegt. Sehr vorteilhaft war es, dass
dort zu jener Zeit eine neue Generation von Professoren antrat - es seien nur Heinz
Maier-Leibnitz und Wilhelm Brenig genannt. Bei Brenig schrieb ich meine Diplomar-
beit über ein Thema aus dem Bereich der Kernphysik und anschließend meine Dok-
torarbeit über ein festkörper-physikalisches Thema aus dem Bereich der kritischen
Phänomene.
Unter kritischen Phänomenen versteht man das Verhalten in der Umgebung des
(kritischen) Punktes, an dem mehrere koexistierende Phasen eine einheitliche werden.
Beispiele sind der Endpunkt der Trennlinie von Gas und Flüssigkeit, an dem die Dif-
ferenz der Dichte der beiden Phasen verschwindet, und die Curie-Temperatur eines
Ferromagneten, an dem seine Magnetisierung, die verschiedene Richtungen einneh-
men kann, verschwindet. Man bezeichnet diese Differenz der Dichten bzw. die
Magnetisierung als Ordnungsparameter. Schon zur Jahrhundertwende gab es genaue
Messungen und Theorien. Nur stimmten sie nicht überein. Die Theorie ergab für das
Verschwinden des Ordnungsparameters ein Gesetz mit der Quadratwurzel aus der
Temperaturdifferenz zur kritischen Temperatur, die Messungen waren viel besser in
Einklang mit der dritten Wurzel der Temperaturdifferenz. Diese Diskrepanz blieb
über ein halbes Jahrhundert bestehen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass in diesem
Bereich große Fluktuationen auftreten, die theoretisch schwer beherrschbar sind.
Im Umkreis dieser Fragestellungen arbeitete ich am Max-Planck-Institut für Phy-
sik in München und an der Außenstelle des Instituts Laue-Langevin in Gacthing. Es
war ein außerordentlich faszinierendes Gebiet. Gab es doch numerische Rechnungen,
vor allem Reihenentwicklungen, die viele Details zu Tage brachten. Es schälten sich
auch phänomenologisch sehr interessante Ergebnisse heraus. Doch fehlte noch ein tie-
feres Verständnis für das Zustandekommen des kritischen Verhaltens. Der eigentliche
Durchbruch kam mit der Theorie von Ken Wilson, der die Idee der Skaleninvarianz,
die von Leo Kadanoff phänomenologisch begründet worden war, in ein Verfahren
umsetzte, das explizite Berechnungen erlaubte. Diese Skaleninvarianz besagt, dass man
am kritischen Punkt alle Größen - bei Magneten zum Beispiel die Abstände und die
Magnetisierung - mit geeigneten Faktoren versehen kann, ohne dass sich die Eigen-
schaften des Systems dadurch verändern.
Diese Theorie erlaubte viele Rechnungen und Untersuchungen. Zu dieser Zeit war
ich für ein Jahr an der Brown University bei Leo Kadanoff und meine Vorkenntnisse
erlaubten mir, auf diesem Gebiet mitzuarbeiten.
Auch Eberhard Riedel, mit dem ich schon vorher über kritische Spindynamik und
eine phänomenologische Theorie des Übergangs (crossover) vom isotropen zum
schwach anisotropen Magneten gearbeitet hatte, trat mit mir wieder in Verbindung,
um mit der Wilson-Theorie das trikritische Verhalten zu untersuchen. Nach einer
intensiven anfänglichen Diskussion arbeiteten wir getrennt, kamen aber fast zur glei-
chen Zeit zur Lösung. Unsere unterschiedlichen Schreibstile überbrückten wir, indem
jeder von uns seine Arbeit unter beider Namen veröffentlichte.
Zurück in Deutschland, diesmal am Festkörper-Institut an der KFA Jülich, habili-
tierte ich mich an der Universität zu Köln. Kurz danach erreichte mich der Ruf nach
Heidelberg, den ich gerne annahm. Die Notwendigkeit der Habilitation ist in den
Naturwissenschaften umstritten. Einen guten Nebeneffekt hat sie: Man ist gezwun-
gen, Vorträge über einige Themen, die nicht dem eigenen engeren Forschungsgebiet