SITZUNGEN
WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Frau Pauen, Herr Schockenhoff und Herr Seibel halten ihre Antrittsreden.
HERR RAPHAEL ROSENBERG HÄLT EINEN VORTRAG:
„Dem Auge auf der Spur. Blickbewegungen beim Betrachten von Gemälden —
historisch und empirisch“1
Sehr geehrter Herr Präsident, gerne komme ich der Anforderung nach, anstelle einer
Antrittsrede dem Vortrag einen biografischen Rückblick vorauszustellen. 1962 bin
ich in Mailand geboren, mitten hinein in eine Sprachenvielfalt, die für jüdische
Familien nach dem zweiten Weltkrieg typisch ist. Meine Mutter war wenige Jahre
zuvor aus Nizza nach Italien gekommen. Mit mir sprach sie Französisch, mit mei-
nem Vater Englisch. Ihre Eltern, die in den frühen 1930er Jahren von Galizien nach
Paris ausgewandert waren, haben sich überwiegend auf Französisch unterhalten, häu-
fig jedoch auch polnisch geredet. Mein Vater war in Wien zur Welt gekommen. Ein
englischer Kindertransport hat ihn vor dem Holocaust gerettet. Nach dem Krieg war
er dann über Palästina nach Italien gekommen. Mit mir hat er zuerst Deutsch
gesprochen, eine Sprache, die ich als Kind viel gehört, aber nicht verstanden habe.
Mein Großvater väterlicher Seite stammte aus Budapest. Er sprach Deutsch und
Italienisch mit einem starken ungarischen Akzent. Diese nahezu babylonische Viel-
falt führte dazu, dass ich erst spät sprechen gelernt habe. Wohltuend war der Rat des
Kinderarztes, die Sprachenzahl einzuschränken. Übrig blieben Italienisch und Fran-
zösisch. Italienisch als Sprache der Kinder mit denen ich gespielt habe, Französisch
als Muttersprache — im eigentlichem Sinne des Wortes — später auch als Sprache des
Lycee, das ich in Mailand besuchte. Englisch und Deutsch habe ich erst in der
Schule gelernt. Durch das Studium in München, Bonn und Basel wurde Letztere
meine Berufs- und Alltagssprache. Dieses Aufwachsen zwischen den Sprachen hat
eine generelle Distanz zur Sprache verursacht. Immer wieder suche ich den passen-
den Ausdruck, der mir in einer anderen Sprache einfällt, und stelle fest, dass sich nicht
alles gleichermaßen in verschiedenen Sprachen sagen lässt. Ich habe sogar den Ein-
druck, em etwas anderer Mensch zu sein, wenn ich Italienisch oder Deutsch spreche.
Bereits als Jugendlicher war ich davon beeindruckt, wie sehr sich Sprachen seman-
tisch, syntaktisch, aber auch habituell voneinander unterscheiden. Vielleicht ist diese
Distanz zur Sprache auch ein Grund für meine Bevorzugung des Auges und damit
für die Wahl der Kunstgeschichte als Studienfach und Beruf. Die Erfahrung der
1 Das hier vorgestellte Projekt beruht auf einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Psycholo-
gen Christoph Klein. Im Rahmen einer Finanzierung der DFG waren Juliane Betz, Martina
Engelbrecht, Oliver Käse und Alexander Linke, seit dem Umzug an die Universität Wien
(1.9.2009) auch Caroline Fuchs und Tanja Jeuni am Projekt beteiligt. Der Forschungsstand und
einzelne Aspekte sind detaillierter dargestellt in: M. Engelbrecht, J. Betz, C. Klein & R. Rosen-
berg, Dem Auge auf der Spur: Eine historische und empirische Studie zur Blickbewegung beim Betrachten
von Gemälden, in: IMAGE — Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 11, Januar 2010,
S. 29—41. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung.
WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Frau Pauen, Herr Schockenhoff und Herr Seibel halten ihre Antrittsreden.
HERR RAPHAEL ROSENBERG HÄLT EINEN VORTRAG:
„Dem Auge auf der Spur. Blickbewegungen beim Betrachten von Gemälden —
historisch und empirisch“1
Sehr geehrter Herr Präsident, gerne komme ich der Anforderung nach, anstelle einer
Antrittsrede dem Vortrag einen biografischen Rückblick vorauszustellen. 1962 bin
ich in Mailand geboren, mitten hinein in eine Sprachenvielfalt, die für jüdische
Familien nach dem zweiten Weltkrieg typisch ist. Meine Mutter war wenige Jahre
zuvor aus Nizza nach Italien gekommen. Mit mir sprach sie Französisch, mit mei-
nem Vater Englisch. Ihre Eltern, die in den frühen 1930er Jahren von Galizien nach
Paris ausgewandert waren, haben sich überwiegend auf Französisch unterhalten, häu-
fig jedoch auch polnisch geredet. Mein Vater war in Wien zur Welt gekommen. Ein
englischer Kindertransport hat ihn vor dem Holocaust gerettet. Nach dem Krieg war
er dann über Palästina nach Italien gekommen. Mit mir hat er zuerst Deutsch
gesprochen, eine Sprache, die ich als Kind viel gehört, aber nicht verstanden habe.
Mein Großvater väterlicher Seite stammte aus Budapest. Er sprach Deutsch und
Italienisch mit einem starken ungarischen Akzent. Diese nahezu babylonische Viel-
falt führte dazu, dass ich erst spät sprechen gelernt habe. Wohltuend war der Rat des
Kinderarztes, die Sprachenzahl einzuschränken. Übrig blieben Italienisch und Fran-
zösisch. Italienisch als Sprache der Kinder mit denen ich gespielt habe, Französisch
als Muttersprache — im eigentlichem Sinne des Wortes — später auch als Sprache des
Lycee, das ich in Mailand besuchte. Englisch und Deutsch habe ich erst in der
Schule gelernt. Durch das Studium in München, Bonn und Basel wurde Letztere
meine Berufs- und Alltagssprache. Dieses Aufwachsen zwischen den Sprachen hat
eine generelle Distanz zur Sprache verursacht. Immer wieder suche ich den passen-
den Ausdruck, der mir in einer anderen Sprache einfällt, und stelle fest, dass sich nicht
alles gleichermaßen in verschiedenen Sprachen sagen lässt. Ich habe sogar den Ein-
druck, em etwas anderer Mensch zu sein, wenn ich Italienisch oder Deutsch spreche.
Bereits als Jugendlicher war ich davon beeindruckt, wie sehr sich Sprachen seman-
tisch, syntaktisch, aber auch habituell voneinander unterscheiden. Vielleicht ist diese
Distanz zur Sprache auch ein Grund für meine Bevorzugung des Auges und damit
für die Wahl der Kunstgeschichte als Studienfach und Beruf. Die Erfahrung der
1 Das hier vorgestellte Projekt beruht auf einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Psycholo-
gen Christoph Klein. Im Rahmen einer Finanzierung der DFG waren Juliane Betz, Martina
Engelbrecht, Oliver Käse und Alexander Linke, seit dem Umzug an die Universität Wien
(1.9.2009) auch Caroline Fuchs und Tanja Jeuni am Projekt beteiligt. Der Forschungsstand und
einzelne Aspekte sind detaillierter dargestellt in: M. Engelbrecht, J. Betz, C. Klein & R. Rosen-
berg, Dem Auge auf der Spur: Eine historische und empirische Studie zur Blickbewegung beim Betrachten
von Gemälden, in: IMAGE — Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 11, Januar 2010,
S. 29—41. Weitere Publikationen sind in Vorbereitung.