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SITZUNGEN
Das Quattrocento machte dem Auge unglaubliche Zumutungen. Der
Beschauer hat nicht nur die größte Mühe, aus den enggestellten Kopfreihen
die einzelnen Physiognomien sich herauszuklauben, er bekommt auch Figuren
in Bruchstücken zu sehen [...].Was für eine Befriedigung empfindet dagegen
das Auge vor den figurenreichsten Kompositionen Raffaels Unter allen
Errungenschaften des 16. Jahrhunderts wird die völlige Befreiung der körper-
lichen Bewegung vorangestellt werden müssen. [...] Der Körper regt sich mit
lebendigeren Organen und das Auge des Beschauers wird zu einer erhöhten
Tätigkeit aufgerufen.4 5
Auf der anderen Seite begründet Wilhelm Waetzoldt 1912 den geografischen Unter-
schied von Stilen mit nationalen Variationen des Blickverhaltens:
Bei den Italienern spricht die architektonisch-plastische Begabung der Nation
mit, die das Auge daran gewöhnt, der Form der Dinge nachzugehen, jede
Gestalt einzeln für sich im Raume zu sehen und in abtastenden Blickbewe-
gungen sich der Körperlichkeit eines Dinges zu versichern. [...] Das Sehen des
Italieners isoliert, das Sehen der Niederländer und Deutschen verbindet; das
erste ist an die Beweglichkeit des Blicks, das zweite an das ruhig schauende
Auge gewöhnt.3
Die Kunsthistoriker Wölfflin (1864-1945), der Lehrstühle an den Universitäten
Basel, Berlin, München und Zürich bekleidet hat, und Waetzoldt (1880-1945), der
bis zur nationalsozialistischen Amtsenthebung 1933 Generaldirektor der Staatlichen
Museen zu Berlin war, zählen zu den prominentestenVertreter ihres Faches. Die hier
zitierten Ansichten sind repräsentativ für die damalige international höchst angese-
hene deutschsprachige Kunstgeschichte. Im Rückblick erstaunt es, wie leichtfertig
und ohne Rückkoppelung mit den Erkenntnissen der Humanmedizin das Verhalten
des Auges thematisiert wurde.
Nach dem zweiten Weltkrieg setzt sich eine nüchterne Vorsicht bei der
Erklärung historischer Phänomene durch. Chronologische und nationale Unter-
schiede von Blickbewegungen werden in der kunstgeschichtlichen Forschung nicht
mehr mit der unreflektiert naiven Generalisierung der Jahre um 1900 ins Feld
geführt. Zahllose Kunstbeschreibungen rekurrieren dennoch bis heute auf die Dyna-
mik des Auges. Noch 1961 erhob Kurt Badt in einem viel diskutierten Buch das
Modell der linearen Blickführung zur Grundlage einer allgemeinen Methodik der
Kunstgeschichte. Die Kompositionslinie war für Diderot eine ästhetische Norm, die
Eigenschaft von ausgezeichneten Gemälden. Demgegenüber postuliert Badt zwei
Jahrhunderte später, dass jedes Bild entlang „seiner“ Kompositionslinie angeschaut,
bzw. interpretiert werden müsse.6
4 Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, München 1899, S. 292.
5 Wilhelm Waetzoldt, Einführung in die Bildenden Künste, Leipzig 1912, S. 21 If.
6 Kurt Badt, Modell und Maler von Jan Vermeer. Probleme der Interpretation; eine Streitschrift gegen Hans
Sedlmayr, Köln 1961.
SITZUNGEN
Das Quattrocento machte dem Auge unglaubliche Zumutungen. Der
Beschauer hat nicht nur die größte Mühe, aus den enggestellten Kopfreihen
die einzelnen Physiognomien sich herauszuklauben, er bekommt auch Figuren
in Bruchstücken zu sehen [...].Was für eine Befriedigung empfindet dagegen
das Auge vor den figurenreichsten Kompositionen Raffaels Unter allen
Errungenschaften des 16. Jahrhunderts wird die völlige Befreiung der körper-
lichen Bewegung vorangestellt werden müssen. [...] Der Körper regt sich mit
lebendigeren Organen und das Auge des Beschauers wird zu einer erhöhten
Tätigkeit aufgerufen.4 5
Auf der anderen Seite begründet Wilhelm Waetzoldt 1912 den geografischen Unter-
schied von Stilen mit nationalen Variationen des Blickverhaltens:
Bei den Italienern spricht die architektonisch-plastische Begabung der Nation
mit, die das Auge daran gewöhnt, der Form der Dinge nachzugehen, jede
Gestalt einzeln für sich im Raume zu sehen und in abtastenden Blickbewe-
gungen sich der Körperlichkeit eines Dinges zu versichern. [...] Das Sehen des
Italieners isoliert, das Sehen der Niederländer und Deutschen verbindet; das
erste ist an die Beweglichkeit des Blicks, das zweite an das ruhig schauende
Auge gewöhnt.3
Die Kunsthistoriker Wölfflin (1864-1945), der Lehrstühle an den Universitäten
Basel, Berlin, München und Zürich bekleidet hat, und Waetzoldt (1880-1945), der
bis zur nationalsozialistischen Amtsenthebung 1933 Generaldirektor der Staatlichen
Museen zu Berlin war, zählen zu den prominentestenVertreter ihres Faches. Die hier
zitierten Ansichten sind repräsentativ für die damalige international höchst angese-
hene deutschsprachige Kunstgeschichte. Im Rückblick erstaunt es, wie leichtfertig
und ohne Rückkoppelung mit den Erkenntnissen der Humanmedizin das Verhalten
des Auges thematisiert wurde.
Nach dem zweiten Weltkrieg setzt sich eine nüchterne Vorsicht bei der
Erklärung historischer Phänomene durch. Chronologische und nationale Unter-
schiede von Blickbewegungen werden in der kunstgeschichtlichen Forschung nicht
mehr mit der unreflektiert naiven Generalisierung der Jahre um 1900 ins Feld
geführt. Zahllose Kunstbeschreibungen rekurrieren dennoch bis heute auf die Dyna-
mik des Auges. Noch 1961 erhob Kurt Badt in einem viel diskutierten Buch das
Modell der linearen Blickführung zur Grundlage einer allgemeinen Methodik der
Kunstgeschichte. Die Kompositionslinie war für Diderot eine ästhetische Norm, die
Eigenschaft von ausgezeichneten Gemälden. Demgegenüber postuliert Badt zwei
Jahrhunderte später, dass jedes Bild entlang „seiner“ Kompositionslinie angeschaut,
bzw. interpretiert werden müsse.6
4 Heinrich Wölfflin, Die klassische Kunst, München 1899, S. 292.
5 Wilhelm Waetzoldt, Einführung in die Bildenden Künste, Leipzig 1912, S. 21 If.
6 Kurt Badt, Modell und Maler von Jan Vermeer. Probleme der Interpretation; eine Streitschrift gegen Hans
Sedlmayr, Köln 1961.