23. Januar 2010 | 85
Erstens bleibt die schnelle und sprunghafte Bewegung des Auges im Alltag unbe-
wusst, dennoch können wir den Blick gezielt steuern. Deswegen ist die Beschrei-
bung von Augenbewegungen subjektiv einleuchtend.12 Zweitens ist die Metapher
der Blickbewegung eine tragfähige Brücke zwischen der Simultaneität des Bildes
und des durchlaufenden Textes. Die von Diderot konstruierte lineare Blickbewegung
entspricht dem Verlauf eines Textes. Sie ermöglicht es, das Bild textfreundlich zu
beschreiben. Bereits Diderot hatte über diesen Zusammenhang nachgedacht: „cette
ligne conduira et celui qui la regarde et celui qui tente de la decrire“. Drittens ist die
Metapher der Blickbewegung ein Mittel, die Komposition eines Gemäldes ganz
ohne Fachvokabular zu analysieren. Dies war besonders wichtig, bevor sich im Laufe
des 18. Jahrhunderts der Begriff „Komposition“ einbürgerte, aber auch danach blieb
es attraktiv, Kunstwerke ohne Termini technici beschreiben zu können.
Die Untersuchung von Blickbewegungen eröffnet der Kunstgeschichte neue
Perspektiven — in systematischer wie auch in historischer Hinsicht. Diese möchte ich
am Ende des Vortrags am Beispiel erster Ergebnissen aus unserem Labor skizzieren.
Die systematische Perspektive. Eye-Tracking ermöglicht es, Prozesse, die sich bei
der Kunstbetrachtung auf der physiologischen und kognitiven Ebene abspielen, bes-
ser zu verstehen. Der erste Schritt war, wie soeben dargestellt, festzustellen, dass die
Wahrnehmung der Struktur (Komposition) von Kunstwerken mit der Wiederholung
bestimmter Sakkaden einhergeht. In einem zweiten Schritt haben wir untersucht,
inwiefern das Sprechen über Gemälde — eine Situation, die zum Alltag von
Museumsbesuchern und ganz besonders von Kunsthistorikern gehört — das Verhal-
ten des Auges verändert. 96 Studierende der Universität Heidelberg betrachteten vier
Gemälde in Faksimile-Qualität für je 15 Minuten. Die Versuchspersonen waren in
zwei Hälften mit gleicher Expertise, Geschlecht und Alter eingeteilt. Eine Experi-
mentalgruppe die in den jeweils letzten fünf Minuten jeder Betrachtung über die
Bilder sprechen sollte („Bitte beschreibe, was Du auf dem Bild siehst“) und eine
Kontrollgruppe, die lediglich dazu aufgefordert wurde, die Bilder stumm zu betrach-
ten. Bei der Auswertung der Blickdaten waren wir von den überaus deutlichen
Unterschieden überrascht, die durch das Sprechen über die Gemälde induziert wur-
den. Während des Sprechens vollzieht der Betrachter die Struktur des Bildes mit sei-
nen Blicksprüngen viel häufiger (bis zu 70% häufiger) nach als zuvor und seine
12 In diesem Sinne schreibt der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps, einer der wichtigsten
Vertreter der Einfühlungstheorie: „Was nun zuerst die Augenbewegung angeht: Damit für mich
eine Linie oder ein Liniensystem lebensvoll oder lebendig werde, ist es zunächst nicht etwa erfor-
derlich, dass ich die Linie im einzelnen mit dem Blick verfolge, d.h. Punkt für Punkt die Linie
fixiere, sondern es ist einzig erforderlich, dass ich von ihrem Verlaufe überhaupt ein Bild gewin-
ne. [...] Und dabei kann der Blickpunkt meines sinnlichen Auges kreuz und quer bald dahin,
bald dorthin sich wenden, an diesem oder jenem Punkte des Liniensystems oder auch an einem
Punkte außerhalb desselben einen Moment haften. Und so kann es sich nicht nur verhalten,
sondern so pflegt es sich erfahrungsgemäß zu verhalten.“ (Theodor Lipps, Ästhetik. Psychologie
des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Hamburg/
Leipzig 1906, S. 415).
Erstens bleibt die schnelle und sprunghafte Bewegung des Auges im Alltag unbe-
wusst, dennoch können wir den Blick gezielt steuern. Deswegen ist die Beschrei-
bung von Augenbewegungen subjektiv einleuchtend.12 Zweitens ist die Metapher
der Blickbewegung eine tragfähige Brücke zwischen der Simultaneität des Bildes
und des durchlaufenden Textes. Die von Diderot konstruierte lineare Blickbewegung
entspricht dem Verlauf eines Textes. Sie ermöglicht es, das Bild textfreundlich zu
beschreiben. Bereits Diderot hatte über diesen Zusammenhang nachgedacht: „cette
ligne conduira et celui qui la regarde et celui qui tente de la decrire“. Drittens ist die
Metapher der Blickbewegung ein Mittel, die Komposition eines Gemäldes ganz
ohne Fachvokabular zu analysieren. Dies war besonders wichtig, bevor sich im Laufe
des 18. Jahrhunderts der Begriff „Komposition“ einbürgerte, aber auch danach blieb
es attraktiv, Kunstwerke ohne Termini technici beschreiben zu können.
Die Untersuchung von Blickbewegungen eröffnet der Kunstgeschichte neue
Perspektiven — in systematischer wie auch in historischer Hinsicht. Diese möchte ich
am Ende des Vortrags am Beispiel erster Ergebnissen aus unserem Labor skizzieren.
Die systematische Perspektive. Eye-Tracking ermöglicht es, Prozesse, die sich bei
der Kunstbetrachtung auf der physiologischen und kognitiven Ebene abspielen, bes-
ser zu verstehen. Der erste Schritt war, wie soeben dargestellt, festzustellen, dass die
Wahrnehmung der Struktur (Komposition) von Kunstwerken mit der Wiederholung
bestimmter Sakkaden einhergeht. In einem zweiten Schritt haben wir untersucht,
inwiefern das Sprechen über Gemälde — eine Situation, die zum Alltag von
Museumsbesuchern und ganz besonders von Kunsthistorikern gehört — das Verhal-
ten des Auges verändert. 96 Studierende der Universität Heidelberg betrachteten vier
Gemälde in Faksimile-Qualität für je 15 Minuten. Die Versuchspersonen waren in
zwei Hälften mit gleicher Expertise, Geschlecht und Alter eingeteilt. Eine Experi-
mentalgruppe die in den jeweils letzten fünf Minuten jeder Betrachtung über die
Bilder sprechen sollte („Bitte beschreibe, was Du auf dem Bild siehst“) und eine
Kontrollgruppe, die lediglich dazu aufgefordert wurde, die Bilder stumm zu betrach-
ten. Bei der Auswertung der Blickdaten waren wir von den überaus deutlichen
Unterschieden überrascht, die durch das Sprechen über die Gemälde induziert wur-
den. Während des Sprechens vollzieht der Betrachter die Struktur des Bildes mit sei-
nen Blicksprüngen viel häufiger (bis zu 70% häufiger) nach als zuvor und seine
12 In diesem Sinne schreibt der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps, einer der wichtigsten
Vertreter der Einfühlungstheorie: „Was nun zuerst die Augenbewegung angeht: Damit für mich
eine Linie oder ein Liniensystem lebensvoll oder lebendig werde, ist es zunächst nicht etwa erfor-
derlich, dass ich die Linie im einzelnen mit dem Blick verfolge, d.h. Punkt für Punkt die Linie
fixiere, sondern es ist einzig erforderlich, dass ich von ihrem Verlaufe überhaupt ein Bild gewin-
ne. [...] Und dabei kann der Blickpunkt meines sinnlichen Auges kreuz und quer bald dahin,
bald dorthin sich wenden, an diesem oder jenem Punkte des Liniensystems oder auch an einem
Punkte außerhalb desselben einen Moment haften. Und so kann es sich nicht nur verhalten,
sondern so pflegt es sich erfahrungsgemäß zu verhalten.“ (Theodor Lipps, Ästhetik. Psychologie
des Schönen und der Kunst. Zweiter Teil. Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Hamburg/
Leipzig 1906, S. 415).