24. Juli 2010
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Das so positive Bild des islamischen Iberiens ist, das zur Relativierung, zugleich
einer im 19. Jahrhundert begründeten Überhöhung geschuldet, die besagt, in al-
Andalus habe em ansonsten unbekanntes Mass an Toleranz geherrscht und es sei zu
einer in der islamischen Kulturgeschichte nie wieder erreichten Blüte der Wissen-
schaften und Künste gekommen. Die Theorie eines goldenen Zeitalters der musli-
misch-jüdischen Symbiose im Spanien des Mittelalters wurde unter anderem durch
jüdische Intellektuelle und Geschichtsschreiber wie Heinrich Graetz (1817-1891)
entwickelt, die damit ihre ganz eigene Zwecke verfolgten, nämlich die tiefen Risse
im Emanzipationsversprechen des aufgeklärten Europas gegenüber den Juden aufzu-
decken und zu zeigen, dass andere Kulturen weniger an gesellschaftlicher Teilhabe
versprochen, aber mehr davon eingelöst hätten.
Wenn man sich vor Augen hält, dass das Osmanische Reich mit der Aufnahme
von zahlreichen Marranen und auch von Moriscos nach deren Ausweisung aus Spa-
nien in Fragmenten die Nachfolge der andalusischen Konvivialität aufgenommen
hat, so ist doch auffallend, dass die Debatte über die convivencia in al-Andalus niemals
in eine generelle Debatte über Konvivialität im gesamten Mittelmeerraum mündete.
Vielmehr sehen wir, wie unterschiedliche Interpretationen, jede mit ihrer eigenen
Berechtigung, aufeinandertreffen: Noch immer ist die so bereitwillige Übernahme
der arabisch-muslimischen Kultur durch die christliche Bevölkerung der iberischen
Halbinsel ein Rätsel. Tiefe Differenzen gibt es zur Frage, wie nicht-muslimische
Bevölkerungen die islamische Herrschaft wirklich erlebten. Wenn das griechisch-
orthodoxe Patriarchat in Istanbul letztlich eine osmanische Institution war und in
einem engen symbiotischen Verhältnis zum osmanischen Staat stand, so sehen wir auf
der anderen Seite Franziskanermönche in Bosnien, die mit ihrer Rede über die „tür-
kische Tyrannei“ niemals die osmanische Herrschaft akzeptierten.
Die Erfahrung mediterraner Konvivialität bis in die Neuzeit hinein ist aus den
besonderen Bedingungen des islamischen Verständnisses gegenüber Nicht-Muslimen
gespeist: In der Tat hatte der vormoderne Islam kein Problem mit der Existenz von
Angehörigen anderer Religionen, solange es sich um Angehörige der sogenannten
Buchreligionen (ahl al-kitab) handelte, insbesondere Juden und Christen. Den Ange-
hörigen von Buchreligionen wurde em Status als „Schutzbefohlene“ (dhimmi)
eingeräumt. Die dhimmi waren mit einem Schutzpatent für ihr Leben, ihre Güter
und ihre Religionsausübung versehene nicht-muslimische Untertanen, die im
Gegenzug für die Anerkennung ihres Status als Nicht-Muslime Einschränkungen
ihrer Rechte im Vergleich zu den Muslimen hinnehmen mussten, unter anderem in
Form einer nur von den Nicht-Muslimen erhobenen Kopfsteuer. Ähnliches gilt für
den Vorgang der Konversion. Um den Islam anzunehmen, genügte die in der Gegen-
wart von muslimischen Zeugen geäußerte Bekenntnisformel (die sogenannte scha-
hada). Dass dies über weite Teile der islamischen Geschichte in der Tat so praktiziert
wurde, wissen wir unter anderem aus Berichten von christlichen Konvertiten zum
Islam, die nach ihrer Rückkehr in christliche Länder von der Inquisition befragt
wurden.
Schließen wir den Kreis, indem wir zur Gegenwart zurückkommen. Die histo-
rische Erfahrung der Konvivialität eignet sich nicht als Vorbild für die Regelung heu-
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Das so positive Bild des islamischen Iberiens ist, das zur Relativierung, zugleich
einer im 19. Jahrhundert begründeten Überhöhung geschuldet, die besagt, in al-
Andalus habe em ansonsten unbekanntes Mass an Toleranz geherrscht und es sei zu
einer in der islamischen Kulturgeschichte nie wieder erreichten Blüte der Wissen-
schaften und Künste gekommen. Die Theorie eines goldenen Zeitalters der musli-
misch-jüdischen Symbiose im Spanien des Mittelalters wurde unter anderem durch
jüdische Intellektuelle und Geschichtsschreiber wie Heinrich Graetz (1817-1891)
entwickelt, die damit ihre ganz eigene Zwecke verfolgten, nämlich die tiefen Risse
im Emanzipationsversprechen des aufgeklärten Europas gegenüber den Juden aufzu-
decken und zu zeigen, dass andere Kulturen weniger an gesellschaftlicher Teilhabe
versprochen, aber mehr davon eingelöst hätten.
Wenn man sich vor Augen hält, dass das Osmanische Reich mit der Aufnahme
von zahlreichen Marranen und auch von Moriscos nach deren Ausweisung aus Spa-
nien in Fragmenten die Nachfolge der andalusischen Konvivialität aufgenommen
hat, so ist doch auffallend, dass die Debatte über die convivencia in al-Andalus niemals
in eine generelle Debatte über Konvivialität im gesamten Mittelmeerraum mündete.
Vielmehr sehen wir, wie unterschiedliche Interpretationen, jede mit ihrer eigenen
Berechtigung, aufeinandertreffen: Noch immer ist die so bereitwillige Übernahme
der arabisch-muslimischen Kultur durch die christliche Bevölkerung der iberischen
Halbinsel ein Rätsel. Tiefe Differenzen gibt es zur Frage, wie nicht-muslimische
Bevölkerungen die islamische Herrschaft wirklich erlebten. Wenn das griechisch-
orthodoxe Patriarchat in Istanbul letztlich eine osmanische Institution war und in
einem engen symbiotischen Verhältnis zum osmanischen Staat stand, so sehen wir auf
der anderen Seite Franziskanermönche in Bosnien, die mit ihrer Rede über die „tür-
kische Tyrannei“ niemals die osmanische Herrschaft akzeptierten.
Die Erfahrung mediterraner Konvivialität bis in die Neuzeit hinein ist aus den
besonderen Bedingungen des islamischen Verständnisses gegenüber Nicht-Muslimen
gespeist: In der Tat hatte der vormoderne Islam kein Problem mit der Existenz von
Angehörigen anderer Religionen, solange es sich um Angehörige der sogenannten
Buchreligionen (ahl al-kitab) handelte, insbesondere Juden und Christen. Den Ange-
hörigen von Buchreligionen wurde em Status als „Schutzbefohlene“ (dhimmi)
eingeräumt. Die dhimmi waren mit einem Schutzpatent für ihr Leben, ihre Güter
und ihre Religionsausübung versehene nicht-muslimische Untertanen, die im
Gegenzug für die Anerkennung ihres Status als Nicht-Muslime Einschränkungen
ihrer Rechte im Vergleich zu den Muslimen hinnehmen mussten, unter anderem in
Form einer nur von den Nicht-Muslimen erhobenen Kopfsteuer. Ähnliches gilt für
den Vorgang der Konversion. Um den Islam anzunehmen, genügte die in der Gegen-
wart von muslimischen Zeugen geäußerte Bekenntnisformel (die sogenannte scha-
hada). Dass dies über weite Teile der islamischen Geschichte in der Tat so praktiziert
wurde, wissen wir unter anderem aus Berichten von christlichen Konvertiten zum
Islam, die nach ihrer Rückkehr in christliche Länder von der Inquisition befragt
wurden.
Schließen wir den Kreis, indem wir zur Gegenwart zurückkommen. Die histo-
rische Erfahrung der Konvivialität eignet sich nicht als Vorbild für die Regelung heu-