Das WIN-Kolleg | 359
3. Die Erfindung des gefährlichen Alters< in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Der letzte der vier historischen Schnitte nimmt die beiden Jahrhundertwenden um
1800 und um 1900 in den Blick. Die Suche nach Texten, welche davon erzählen, dass
die mittleren Lebensjahre durch eine krisenhaft empfundene Alternserfahrung
geprägt sind, hat in den letzten Jahren des Projekts gezeigt, dass sich zwei signifi-
kante Konjunkturen in den ersten Jahrzehnten des 19. und nochmals zu Beginn des
20. Jahrhunderts ausmachen lassen. Auf beide Zeiträume lassen sich mehr als zwei-
drittel der gut fünfzig Texte verteilen, die für die Zeit vom ausgehenden 18. bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnten. Dieser zunächst rem
quantitative Befund erscheint insoweit aufschlussreich, als die Erzählungen von der
Alternserfahrung auf einen engen Zusammenhang von gesellschaftlicher Moderni-
sierung und Psychologisierung des Erzählens verweisen, die zu den beiden Jahrhun-
dertwenden jeweils besonders ausgeprägt waren. Die Erfindung des gefährlichen
Alters< als Krise der Lebensmitte wird in der Literatur gleichsam avant la lettre, als
erzähltes Altern erprobt und psycho-sozial gedeutet. Dies geschieht einerseits durch
eine zunehmende subjektivierte Sicht der Alternserfahrung und andererseits durch
die Resignifikation topischer Figurationen, etwa der Neubewertung von Liebespaa-
ren ungleichen Alters oder der Rehabilitation von Lust und Verlangen im Alter.
Im letzten Jahr konnte das Textkorpus nach einer systematischen Recherche
weitgehend abgeschlossen werden. Für die neuere deutsche Literatur liegen seit Aus-
gang des 18. Jahrhunderts gut fünfzig transgenerische Narrative vor, die von einer
krisenhaften Alternserfahrung in der Lebensmitte handeln. Die ersten Interpretatio-
nen, die zum Teil auch vergleichend angelegt sind, haben gezeigt, dass man durchaus
von einem eigenen Genre der Alternserzählung sprechen kann, das zunächst eine
bemerkenswerte Stabilität in der Titelgebung aufweist: Meist wurden die Texte unter
einem Titel nach dem Muster „Eine Frau von [...] Jahren“ oder „Mann von [...]
Jahren“ veröffentlicht, wobei das Alter, das als kritisch erachtet wird, zwischen dem
dreißigsten und sechzigsten Lebensjahrzehnt schwankt. Darüber hinaus zeigte die
Auswertung der Texte, die im letzten Jahr begonnen hat, dass em Figurationsmuster
von altersungleichen Paarungen für nahezu alle Alternsnarrative konstitutiv ist. Trotz
zahlreicher geschlechtsspezifischer Modifikationen der Alternsnarrative lässt sich die-
ses Muster in der Figurenkonstellation unabhängig vom Geschlecht der Hauptfigur
nachweisen. Die polyphone Struktur und die verschiedenen Konfliktfigurationen
der Narrative zeigen überdies, dass in der Literatur die Krise der Lebensmitte nicht
allein entwicklungspsychologisch gedeutet wird. Vielmehr kreuzen sich in den
Alternsnarrativen mehrere Diskurse, so die Rede vom Generationenkonflikt, der
gender-differenzierte sexuelle Diskurs und die Frage nach der krisenhaften Identität
des Ich vor dem Hintergrund eines zeitökonomischen Lebens. Alternsnarrative kön-
nen zudem als Schlüsseltexte gelesen werden, um den Prozess einer zunehmenden
Subjektivierung der Altersperspektive nachzuzeichnen und zu erklären. So zeigen
manche der Alternsnarrative, wie die modernen Umdeutungen von Altersbildern
über die Subjektivierung Altersperspektiven in der Literatur vorbereiten.
Im Zentrum der interpretatorischen Auswertung stand in den vergangenen
Monaten das Werk Arthur Schnitzlers. Anknüpfend an die bereits auf der Tagung
3. Die Erfindung des gefährlichen Alters< in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Der letzte der vier historischen Schnitte nimmt die beiden Jahrhundertwenden um
1800 und um 1900 in den Blick. Die Suche nach Texten, welche davon erzählen, dass
die mittleren Lebensjahre durch eine krisenhaft empfundene Alternserfahrung
geprägt sind, hat in den letzten Jahren des Projekts gezeigt, dass sich zwei signifi-
kante Konjunkturen in den ersten Jahrzehnten des 19. und nochmals zu Beginn des
20. Jahrhunderts ausmachen lassen. Auf beide Zeiträume lassen sich mehr als zwei-
drittel der gut fünfzig Texte verteilen, die für die Zeit vom ausgehenden 18. bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnten. Dieser zunächst rem
quantitative Befund erscheint insoweit aufschlussreich, als die Erzählungen von der
Alternserfahrung auf einen engen Zusammenhang von gesellschaftlicher Moderni-
sierung und Psychologisierung des Erzählens verweisen, die zu den beiden Jahrhun-
dertwenden jeweils besonders ausgeprägt waren. Die Erfindung des gefährlichen
Alters< als Krise der Lebensmitte wird in der Literatur gleichsam avant la lettre, als
erzähltes Altern erprobt und psycho-sozial gedeutet. Dies geschieht einerseits durch
eine zunehmende subjektivierte Sicht der Alternserfahrung und andererseits durch
die Resignifikation topischer Figurationen, etwa der Neubewertung von Liebespaa-
ren ungleichen Alters oder der Rehabilitation von Lust und Verlangen im Alter.
Im letzten Jahr konnte das Textkorpus nach einer systematischen Recherche
weitgehend abgeschlossen werden. Für die neuere deutsche Literatur liegen seit Aus-
gang des 18. Jahrhunderts gut fünfzig transgenerische Narrative vor, die von einer
krisenhaften Alternserfahrung in der Lebensmitte handeln. Die ersten Interpretatio-
nen, die zum Teil auch vergleichend angelegt sind, haben gezeigt, dass man durchaus
von einem eigenen Genre der Alternserzählung sprechen kann, das zunächst eine
bemerkenswerte Stabilität in der Titelgebung aufweist: Meist wurden die Texte unter
einem Titel nach dem Muster „Eine Frau von [...] Jahren“ oder „Mann von [...]
Jahren“ veröffentlicht, wobei das Alter, das als kritisch erachtet wird, zwischen dem
dreißigsten und sechzigsten Lebensjahrzehnt schwankt. Darüber hinaus zeigte die
Auswertung der Texte, die im letzten Jahr begonnen hat, dass em Figurationsmuster
von altersungleichen Paarungen für nahezu alle Alternsnarrative konstitutiv ist. Trotz
zahlreicher geschlechtsspezifischer Modifikationen der Alternsnarrative lässt sich die-
ses Muster in der Figurenkonstellation unabhängig vom Geschlecht der Hauptfigur
nachweisen. Die polyphone Struktur und die verschiedenen Konfliktfigurationen
der Narrative zeigen überdies, dass in der Literatur die Krise der Lebensmitte nicht
allein entwicklungspsychologisch gedeutet wird. Vielmehr kreuzen sich in den
Alternsnarrativen mehrere Diskurse, so die Rede vom Generationenkonflikt, der
gender-differenzierte sexuelle Diskurs und die Frage nach der krisenhaften Identität
des Ich vor dem Hintergrund eines zeitökonomischen Lebens. Alternsnarrative kön-
nen zudem als Schlüsseltexte gelesen werden, um den Prozess einer zunehmenden
Subjektivierung der Altersperspektive nachzuzeichnen und zu erklären. So zeigen
manche der Alternsnarrative, wie die modernen Umdeutungen von Altersbildern
über die Subjektivierung Altersperspektiven in der Literatur vorbereiten.
Im Zentrum der interpretatorischen Auswertung stand in den vergangenen
Monaten das Werk Arthur Schnitzlers. Anknüpfend an die bereits auf der Tagung