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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

DOI Kapitel:
I. Das akademische Jahr 2013
DOI Artikel:
Kirchhof, Paul: Festrede von Paul Kirchhof: „Der Auftrag einer Akademie in Zeiten kulturellen Umbruchs“
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0028
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25. Mai 2013

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(3.) Gefestigte Grundlagen unseres Lebens stehen in Frage, ohne in ihrer Frag-
würdigkeit Antworten gefunden zu haben. Die Bürgergesellschaft in einem ein-
heitsstiftenden Staat entwickelt sich zur transnationalen Wettbewerbsgesellschaft,
geprägt von der Flüchtigkeit des Geldes und der Schwäche des Rechts, das in den
Einzelstaaten wurzelt und deswegen für weltweit tätige Unternehmen vermeidbar
scheint. Der Zusammenhalt der Menschen in einer Gemeinschaft des Staates wird
geschwächt; dadurch verliert das Staatsvolk die scharfen Konturen. Eine Ausgangs-
kategorie der Demokratie droht sich im Ungefähren zu verlieren. Der klassische
Gegensatz von Kapital und Arbeit verschwindet in einem Wirtschaftsleben, das im
Wesentlichen maschinell produziert, in mitbestimmten Unternehmen sich ereignet,
in einem rechtlich garantierten Lohn- und Sozialversicherungsanspruch die ökono-
mische Grundlage der Freiheit findet. Die Unterscheidung zwischen dem Recht als
der äußeren, vom Staat gewährleisteten Ordnung, und dem Ethos als der inneren, aus
der Selbstvergewisserung, der Gewissensanspannung gewonnenen Bindung zerfließt
in Compliance- und Governance-Strukturen, gefährdet die Distanz zwischen recht-
lichen Freiheitsgrenzen und Freiheitswahrnehmung dank innerer Bindung. Die
Kontrolle des Staates durch die „Gegenmacht“ der Medien, der öffentlichen Debat-
te droht durch eine mediale Übermacht gestört, die in der Macht des täglichen Wor-
tes und Bildes anprangert, skandalisiert und zerstört. Das Signal „Empört Euch“ for-
dert Empörung, die einen Anlass sucht, trifft nicht auf einen Anlass, der empört.
Die Grundsatzfrage der Politik- und Rechtstheorie, unter welchen Bedingun-
gen es Menschen hinnehmen, dass andere Menschen Herrschaft über sie ausüben,
wann eine Herrschaft dankt Übereinstimmung mit den herrschenden Rechtsüber-
zeugungen, dank regelmäßiger Bestätigung durch die Herrschaftszugehörigen, dank
Einsetzung durch eine Autorität Legitimität beansprucht, stellt sich gegenwärtig
wieder mit bedrückender Dringlichkeit. Mitglieder unserer Akademie haben Ant-
worten gegeben, die zur Verallgemeinerung, zu Wirksamkeit in Deutschland und
Europa drängen.
(4.) Kultur bedeutet auch, dass die politisch Herrschenden und wirtschaftlich
Mächtigen an Recht gebunden sind. Auch der Souverän hatte göttliches Recht,
Naturrecht, einen Gesellschaftsvertrag, seine Verantwortlichkeit gegenüber dem
Staatsvolk zu respektieren. Gegenwärtig scheinen sich international tätige Wirt-
schaftsunternehmen den nationalen Rechtsordnungen zu entziehen. Das Europa-
recht schwächt als Staatenverbund, in dem die Staaten durch ihre Regierungen, nicht
die Parlamente handeln und einen Teil ihrer Hoheitsgewalt gemeinsam ausüben, das
Erfordernis demokratisch-parlamentarischer Legitimation. Die Union schickt sich
an, diese Entparlamentarisierung nicht nur als ein vorläufiges Übergangsproblem
hinzunehmen, sondern theoretisch zu rechtfertigen. Die Finanzkrise ist durch Miss-
achtung des Rechts entstanden und soll nun durch Einrichtungen jenseits des
Rechts bekämpft werden. Das Völkerrecht bemüht sich, in den Vereinten Nationen
und in völkerrechtlichen Verträgen ein weltumgreifendes Recht des Friedens zu
schaffen, muss dabei aber um seinen Geltungsanspruch kämpfen, bleibt in seiner
Durchsetzbarkeit oft eine Justitia ohne Schwert. Die Vereinten Nationen beginnen,
grobe Menschenrechtsverletzungen mit militärischer Gewalt zu unterbinden, suchen
 
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