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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 25. Januar 2013
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Primavesi, Oliver: Aristoteles-Fragmente in der Spätrenaissance
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0039
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SITZUNGEN

gestatten es, einen Blick hinter die geschlossene Fassade des Corpus Aristotelicum zu
werfen. Als Beispiel mag der ehrgeizige, im Jahre 1923 von Werner Jaeger unter-
nommene Versuch dienen, das Aristotelische System durch ein Bild der geistigen Ent-
wicklung des Aristoteles zu ersetzen: Dieser Versuch wäre ohne die von den Frag-
menten dargebotenen Informationen über den verlorenen Aristoteles gar nicht
durchführbar gewesen.
Umberto Eco hat in seinem Roman II nome della rosa (1980) den Einbruch des
anderen, nicht im Corpus tradierten Aristoteles bekanntlich bereits ins Spätmittel-
alter zurückprojiziert: Der Roman imaginiert den Skandal, den im frühen 14. Jahr-
hundert die Auffindung des verloren geglaubten zweiten Buchs der Poetik in einer
norditalienischen Benediktinerabtei hätte auslösen können. Mag Eco mit dieser
literarischen Fiktion chronologisch auch über das Ziel hinausgeschossen sein, so ist
es doch eine bislang wenig beachtete Tatsache, dass die Erforschung der Fragmente
des Aristoteles bereits in der Spätrenaissance begonnen hat: Die erste Aristoteles-
Fragmentsammlung stammt von Francesco Patrizi (kroatisch Franc Petrif, latinisiert
Franciscus Patricius') der 1529 auf der dalmatischen, damals zur Republik Venedig
gehörenden Insel Cres geboren wurde und 1597 in Rom starb; die Fragmentsamm-
lung trägt den Titel: Aristotelicorum librorum non extantium fragmenta verborum, sententi-
arum, dogmatum und sie bildet das VII. Buch des 1571 erschienenen ersten Teils von
Patrizis Discussiones Peripateticae.
Um den Einfluss, der von dieser Fragmentsammlung auf die neuzeitliche Ari-
stotelesrezeption ausgegangen ist, überprüfbar zu machen, habe ich die Sammlung
für eine Neupublikation innerhalb der Schriftenreihe der Heidelberger Akademie
vorbereitet: Zu jedem Fragment bzw. Testimonium wird sowohl die Fundstelle des
betreffenden Textes in der antiken Literatur nach der heute maßgeblichen Edition
angegeben werden, als auch, gegebenenfalls, die Nummer, die der betreffende Text
in den Fragmentsanimlungen von Rose und Heitz trägt.
Die im späten 16. Jahrhundert aufkommenden Fragmentsammlungen zu ver-
lorenen Werken antiker Autoren sind nicht einfach als Beitrag zu einer über Raum
und Zeit schwebenden philologia perennis zu betrachten; sie stehen vielmehr im intel-
lektuellen Spannungsfeld ihrer Entstehungszeit. Im Fall von Patrizis Aristoteles-Frag-
menten ist dieser zeitgenössische Kontext einigermaßen paradox: Patrizi, der von
1577 bis 1592 einen an der Universität von Ferrara für ihn eingerichteten Lehrstuhl
für platonische Philosophie bekleidete, vertrat einen explizit anti-aristotelischen Pla-
tonismus. Auch seine Discussiones Peripateticae wie insbesondere die darin enthaltene
Sammlung der Aristotelesfragmente wollen Aristoteles und seinem Werk nicht etwa
dienen, sondern, im Gegenteil, dessen im kirchlichen Lehrbetrieb des Lateinischen
Mittelalters begründete Sonderstellung erschüttern. Dass Patrizi dieses Ziel mitunter
durch die bloße Anordnung seines Materials zu erreichen suchte, zeigen schon gleich
die ersten beiden Fragmente: Patrizi zitiert zunächst aus Cicero die optimistische
Prognose des Aristoteles (Fr. 51,1 Rose3 = Fr. 33 Heitz), der zufolge die Philosophie
in jüngster Zeit so große Fortschritte erzielt habe, dass ihre Vollendung binnen weni-
ger Jahre zu erwarten stehe — Aristoteles denkt hier zweifellos an seine eigene
Leistung und an die seiner Schule. Unmittelbar danach aber führt Patrizi, ebenfalls
 
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