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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 20. Juli 2013
DOI Artikel:
Stierle, Karlheinz: Dantes achter Höllenkreis und das Problem der Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0077
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100 | SITZUNGEN

ist. Von Vergil nach seinem Ende gefragt, von dem die Antike nur unklare Kenntnis
hatte, erzählt Odysseus seine unerhörte Geschichte, die von Gaeta, wo zuerst Aeneas
italienischen Boden betrat, und wo er sich vom Bann der Zauberin Circe befreite,
westwärts durch das ganze Mittelmeer bis zu den Säulen des Herkules fuhrt, die er
schließlich mit seinen Gefährten alt und müde geworden, erreicht. Jetzt wäre der
endgültige Augenblick der Rückkehr gekommen. Aber eben in diesem Augenblick
trifft Odysseus der Blitz seines Ingeniums und die unerhörte Möglichkeit leuchtet
in ihm auf, ins westliche Weltmeer aufzubrechen und das absolut Unbekannte zu
erkunden. Fast erreicht er mit seinen Geführten, weit in die südliche Hemisphäre
abgetrieben, eine Insel, in der Dantes Leser die Insel des irdischen Paradieses erahnt,
die Dante im 2. Teil der Commedia betreten wird, als sich auf göttliches Geheiß ein
gewaltiger Sturm erhebt und sein Schiff mit ihm und den Gefährten in die Tiefe
reißt.
Dem 26. Gesang des Inferno antwortet der 26. Gesang des Paradiso, wo Dante
dem ersterschaffenen Menschen Adam selbst begegnet. Schon Adam ist mit der Gabe
des Ingeniums geschlagen. Nicht die Schlange und ihre Trugrede sei Anlass der Ver-
treibung aus dem Paradis gewesen, erklärte Adam, sondern eine Übertretung von
Gottes Gebot, die sprachlich die Übertretung des Odysseus heraufruft: il trapassar del
segno“ (Par. 26, 117), die Überschreitung des Zeichens. Dantes Adam ist ein erster
Odysseus, den die Verlockung der Virtualität, die in der Sprache des ingegno Gestalt
wird, ins Offene, die irdische Welt jenseits des Paradieses wirft.
Zwischen der unendlichen Positivität des göttlichen verbo und seines „infinito
eccesso“ (Par. 19, 45), seinem unendlichen Überschuss an göttlicher Virtualität und
der unendlichen Negativität der in eine falsche Seinsrichtung gelenkten mensch-
lichen Trugrede steht die gefährliche Rede des ingegno, das nicht sein könnte ohne
die reineVirtualität der Sprache, die es in seinen Dienst nimmt. Bleibt die Frage nach
der Rolle des Ingenium in Dantes eigener Dichtung. Auch diese ist ein trapassar del
segno, ein Überschreiten des Zeichens, das dem Zeichen immer wieder neue
Dimensionen erschließt. Die Dichtung als trapassar del segno hat teil an den drei
Modi der sprachlichen Manifestation. Sie ist ein unendlicher Exzess, ein infinito
eccesso, aber sie ist auch Trugrede, die vorgibt zu leisten, was sie nicht leisten kann.
Und sie ist im innersten die Sprache des ingegno in seiner reinsten Gestalt. Der gött-
liche infinito eccesso, das trapassar del segno und die Trugrede haben eines gemein-
sam: ihre Voraussetzung ist die unendliche Kombinatorik und Kombinierbarkeit der
Sprache, die danach verlangt, Rede zu werden und erst als Rede ihre reine Virtua-
lität in Gestalt verwandelt.
 
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