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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 25. Oktober 2013
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Knapp, Fritz Peter: Die Geburt des fiktionalen Romans aus dem Geist des Märchens
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0080
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25. Oktober 2013

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die ohne Fiktion nicht auskommt. Im übrigen bildet jedoch die „Schöne Literatur“
heutzutage ein relativ selbständiges System und gilt als ein „Sprechen als ob“ unter
den Bedingungen eines Fiktionskontraktes. Vor dem 18. Jh. bestand ein solcher aller-
dings schwerlich. Zuvor war pure Fiktionalität (terminologisch von Fiktion streng zu
trennen!) zwar in der Form der Fabel und der Allegorie, wo Tiere, abstrakte Wesen
etc. entgegen den Gesetzen der Natur sprechen und handeln, durchaus bekannt und
theoretisch legitimiert. Der moderne Fiktionskontrakt von Autor und Publikum
besagt dagegen: Etwas wird erzählt, als ob es wahr sei, obwohl alle wissen, dass es
nicht wahr ist. Im Mittelalter stellt man den genannten fiktionalen Gattungen in aller
Regel nur ein pseudohistorisches Erzählen gegenüber. Im Flintergrund steht hier die
christliche Weltanschauung, die — nach Augustinus und anderen Kirchenvätern — der
Geschichte eine der gottgeschaffenen Natur entsprechende Dignität und ihr damit
den Vorrang des edelsten Erzählgegenstandes verleiht, vor allem aber die Schöpfer-
kraft allein Gott vorbehält und dem Menschen nur die Kreation von leerem Gerede
(lat. Jim' — fabula), also Nicht-Seiendem erlaubt. Schon die platonisch-aristotelische
Philosophie behauptete die Einzigkeit undVollkommenheit der Wirklichkeit, die der
Mensch weder verdoppeln noch ersetzen, sondern nur nachahmen könne.
Seit dem Spätmittelalter beginnt man aber daran zu zweifeln, ob Gottes voll-
kommene Willkür notwendigerweise nur eine, und zwar die beste aller Welten
geschaffen habe und ob der Mensch diese Welt überhaupt ausreichend zu erkennen
vermöge. Spätscholastischer Voluntarismus, cartesianischer Subjektivismus und auf-
klärerischer Rationalismus erschüttern die alte Weltanschauung. An die Stelle der
glaubensmäßigen Bindung an die vorgegebene und geordnete Wirklichkeit tritt die
Freiheit des Menschen, sich selbst eine eigene „Welt im Kopf“ zu schaffen. Die
Frage ist daher durchaus berechtigt und naheliegend, ob zuvor so etwas wie fiktio-
nales Erzählen nach dem Prinzip der Irrealität, aber nicht unter der sichtbaren Über-
schrift „Contra natnram“ mit parabolischem Bezug zur Wirklichkeit wie in Fabel und
Allegorie überhaupt möglich sein konnte. Der Vortrag riskiert mit Verweis auf zahl-
reiche eigene frühere Studien eine positive Antwort: Chretien de Troyes (2. Hälfte
12. Jh.), der bedeutendste mittelalterliche Romancier, habe aus dem Geiste der „Ein-
fachen Form“ des Märchens (A. Jolles) seine hochartifiziellen und großepischen
Artusromane von Erec, Yvain und Lancelot geschaffen, die sich sichtbar von
Geschichte und Wirklichkeit abwenden, das Wunderbare zum Selbstverständlichen,
das irreale Geschehen aber nicht zum Gleichnis für reales erklären. So wenig wie das
Märchen fügen sich diese Romane den strengen Vorgaben einer theologischen
Poetik im oben skizzierten Sinne. Sie dürfen als fiktional gelten. Das haben freilich
die wenigsten Zeitgenossen erkannt. Man hat die kunstvolle Literarizität der Werke
Chretiens bewundert und endlos nachgeahmt, seine Erzählwelt aber zumeist wieder
als eine (pseudo)historische verstanden.
Die einmal geborene Fiktionalität lebte nur im Verborgenen weiter, musste sich
also mehrmals auf andere Weise wiederherstellen. Ariosto (frühes 16. Jh.) und
Cervantes (frühes 17. Jh.) gaben die wichtigsten Anstöße vor der Aufklärung. Ihr
Ausgangspunkt waren die spätmittelalterlichen Ritterromane, die den Anspruch,
historische Wahrheit zu berichten, mit hypertropher Wundergläubigkeit verbinden.
 
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