126
SITZUNGEN
Ein anderes Thema ist die Grenze der Lebensfähigkeit am Beginn des Lebens,
also die extreme Frühgeburtlichkeit. Während meiner Ausbildung in den 80er Jah-
ren haben wir selten intensivmedizinische Maßnahmen bei Frühgeborenen unter
28 SSW ergriffen, da wir davon ausgingen, dass diese Kinder nicht ohne schwere
Schäden (Hirnblutung, Blindheit) überleben würden. Heute haben wir die Grenze
bis knapp unter die 24. SSW verschoben, ein Zustand, der nur unter extremer Inten-
sivtherapie zum Überleben führen kann. Ist es ethisch gerechtfertigt, die Grenzen des
Lebens so zu verschieben? Der Erfolg der Neugeborenenmedizin gibt uns dabei
recht mit einer überraschend geringen Komplikationsrate, allerdings nur an hoch-
spezialisierten Zentren.
6. Medizin als Geschäftsfeld, Ökonomie — Ökonomisierung
Als Arzt und Wissenschaftler liest man in den letzten Jahren mit Erstaunen, dass für
die Zukunft der Menschheit zumindest in der ersten Welt drei Geschäftsfelder von
größter Bedeutung sind: Energie, Mobilität und Gesundheit. Während wir als Arzte
unser Handeln im Kontext von Daseinsvorsorge und dem Bemühen sehen, jedem
Menschen als Patienten, die nach den Erkenntnissen der Medizin bestmögliche
Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen, sind andere damit beschäftigt, aus der
Interaktion eines hilfesuchenden Menschen mit Ärzten, Pflegenden und anderen im
Gesundheitswesen ein Geschäftsfeld zu machen. Der Patient ist der Kunde, die ande-
ren sind die Anbieter von Dienstleistungen. Ethische Fragen sind dabei bisher nur
unter dem Gesichtspunkt der Ökonomisierung, also der Rationierung von Gesund-
heitsleistungen auf dem Hintergrund zunehmend knapper Ressourcen, geführt wor-
den. Ist es aber ethisch vertretbar, dass Investoren Renditen aus einem beitragsfinan-
zierten System ziehen, das der Versorgung der Bevölkerung dient? Unabhängig
davon, ob die Vergütung von Ärzten und anderen sogenannten Anbietern adäquat,
d. h. zu hoch oder zu niedrig ist, gibt es einen dritten Spieler, der mit der Situation
primär überhaupt nichts zu tun, nämlich den an privaten Gesundheitskonzernen
beteiligten Investor, der wie jeder andere Anteilseigner einer Firma in erster Linie an
seine eigene Rendite denkt. Die Verwandlung des Gesundheitswesens in ein
Geschäftsfeld rein wirtschaftlich handelnder Personen hat tiefgreifende Implikatio-
nen und Veränderungen mit sich gebracht. Die Einführung von Produktionsprinzi-
pien der Automobilindustrie in die Organisationsabläufe der Medizin im Kranken-
haus hat dabei in den letzten Jahren zunehmend auch die Universitätsmedizin ergrif-
fen. Die Notwendigkeit, auf dem Hintergrund unzureichender staatlicher
Finanzierungen der Universitätskliniken wie auch der Universitäten Investitionen
selbst zu erwirtschaften, hat dabei auch erhebliche Implikationen für die universitä-
re Forschung, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Wichtig scheint mir
allerdings der Hinweis darauf, dass die nahezu komplette Einführung betriebswirt-
schaftlicher Prinzipien in den Alltag der Medizin auch das Handeln der für den Pati-
enten entscheidenden Personen, wesentlich verändert hat. War es früher möglich, in
langen Konferenzen spezifische Probleme von Patienten zu besprechen, stehen heute
hierzu getaktete Time-Slots zur Verfügung. Die Personalbedarfsberechnung der Aus-
SITZUNGEN
Ein anderes Thema ist die Grenze der Lebensfähigkeit am Beginn des Lebens,
also die extreme Frühgeburtlichkeit. Während meiner Ausbildung in den 80er Jah-
ren haben wir selten intensivmedizinische Maßnahmen bei Frühgeborenen unter
28 SSW ergriffen, da wir davon ausgingen, dass diese Kinder nicht ohne schwere
Schäden (Hirnblutung, Blindheit) überleben würden. Heute haben wir die Grenze
bis knapp unter die 24. SSW verschoben, ein Zustand, der nur unter extremer Inten-
sivtherapie zum Überleben führen kann. Ist es ethisch gerechtfertigt, die Grenzen des
Lebens so zu verschieben? Der Erfolg der Neugeborenenmedizin gibt uns dabei
recht mit einer überraschend geringen Komplikationsrate, allerdings nur an hoch-
spezialisierten Zentren.
6. Medizin als Geschäftsfeld, Ökonomie — Ökonomisierung
Als Arzt und Wissenschaftler liest man in den letzten Jahren mit Erstaunen, dass für
die Zukunft der Menschheit zumindest in der ersten Welt drei Geschäftsfelder von
größter Bedeutung sind: Energie, Mobilität und Gesundheit. Während wir als Arzte
unser Handeln im Kontext von Daseinsvorsorge und dem Bemühen sehen, jedem
Menschen als Patienten, die nach den Erkenntnissen der Medizin bestmögliche
Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen, sind andere damit beschäftigt, aus der
Interaktion eines hilfesuchenden Menschen mit Ärzten, Pflegenden und anderen im
Gesundheitswesen ein Geschäftsfeld zu machen. Der Patient ist der Kunde, die ande-
ren sind die Anbieter von Dienstleistungen. Ethische Fragen sind dabei bisher nur
unter dem Gesichtspunkt der Ökonomisierung, also der Rationierung von Gesund-
heitsleistungen auf dem Hintergrund zunehmend knapper Ressourcen, geführt wor-
den. Ist es aber ethisch vertretbar, dass Investoren Renditen aus einem beitragsfinan-
zierten System ziehen, das der Versorgung der Bevölkerung dient? Unabhängig
davon, ob die Vergütung von Ärzten und anderen sogenannten Anbietern adäquat,
d. h. zu hoch oder zu niedrig ist, gibt es einen dritten Spieler, der mit der Situation
primär überhaupt nichts zu tun, nämlich den an privaten Gesundheitskonzernen
beteiligten Investor, der wie jeder andere Anteilseigner einer Firma in erster Linie an
seine eigene Rendite denkt. Die Verwandlung des Gesundheitswesens in ein
Geschäftsfeld rein wirtschaftlich handelnder Personen hat tiefgreifende Implikatio-
nen und Veränderungen mit sich gebracht. Die Einführung von Produktionsprinzi-
pien der Automobilindustrie in die Organisationsabläufe der Medizin im Kranken-
haus hat dabei in den letzten Jahren zunehmend auch die Universitätsmedizin ergrif-
fen. Die Notwendigkeit, auf dem Hintergrund unzureichender staatlicher
Finanzierungen der Universitätskliniken wie auch der Universitäten Investitionen
selbst zu erwirtschaften, hat dabei auch erhebliche Implikationen für die universitä-
re Forschung, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Wichtig scheint mir
allerdings der Hinweis darauf, dass die nahezu komplette Einführung betriebswirt-
schaftlicher Prinzipien in den Alltag der Medizin auch das Handeln der für den Pati-
enten entscheidenden Personen, wesentlich verändert hat. War es früher möglich, in
langen Konferenzen spezifische Probleme von Patienten zu besprechen, stehen heute
hierzu getaktete Time-Slots zur Verfügung. Die Personalbedarfsberechnung der Aus-