Annette Gerok-Reiter
189
heit, bei der es zwischen der Problematik eines fehlenden ,Individualität’-Begriffs in
mittelalterlichen Kontexten und einer kaum zu überschauenden Flut an Thesenbil-
dungen zur Renaissance vor der Renaissance in historisch angemessener Differen-
zierung hindurchzukommen galt.
Nach zweijähriger Mitarbeitertätigkeit und der Emeritierung von Walter Haug
verließ ich Tübingen. Meine inzwischen vierköpfige Familie hatte sich in Mainz nie-
dergelassen. Unterstützung fand ich durch ein DFG-Stipendium, anschließend durch
ein Post-Doc-Stipendium des Tübinger Graduiertenkollegs „Ars und Scientia im
Mittelalter und in der frühen Neuzeit“, bevor ich dann an der Mainzer Universität
über mehrere Jahre Fuß fasste. Insgesamt keine leichte Zeit: Kleine Kinder fordern
und verdienen große Eeidenschaft, Wissenschaft ebenso. Bei zwei Leidenschaften ist
gemeinhin eine zuviel. Zumal in einer Zeit, in der Kindertagesstätten noch rar
waren, Kindergartenplätze erst für Kinder ab vier Jahren zur Verfügung standen, die
Kindergärten um zwölf Uhr schlossen und an Ganztagsschulen noch lange nicht zu
denken war. Ein Stück Zeitgeschichte. Zwar bot die DFG - wir befinden uns in den
90er Jahren — Halbtagsstipendien, die Möglichkeit zu Erziehungsunterbrechungen
etc., doch ein gewisses Zähneknirschen ist in den Briefwechseln nicht ganz zu über-
hören. Gleichstellungsförderung lief weniger über die öffentlichen Programme als
über die großen Persönlichkeiten, meine beiden mediävistischen Väter sowie Georg
Wieland als Leiter des Graduiertenkollegs oder Uta Störmer-Caysa in Mainz — und
immer und vor allem meinen Mann. Inzwischen hat sich viel geändert, Gott sei
Dank, denn auf so viel Glück, wie ich es hatte, kann man nicht großflächig bauen,
ein plural-moderner Wissenschaftsstandort schon gar nicht.
Dann der Ruf an die FU Berlin: Zweierlei beeindruckte besonders: Zum einen
die Tatsache, dass eben hier Gleichstellungsförderung in einem lebendigen, inspirier-
ten und flexiblen Universitätsalltag — mit durchaus strategischer Organisation im Vor-
feld — kein Thema mehr war, weil es kein Thema mehr sein musste. Zum anderen
die Aufbruchsstimmung einer Universität, die gerade in den Geisteswissenschaften in
der Exzellenz herausragend aufgestellt und zum wiederholten Mal ausgezeichnet
worden war. Im Exzellenscluster Languages of Emotion fand ich dann auch rasch
Aufnahme und konnte dort ein zunächst durch die Thyssenstiftung finanziertes
Projekt zu „Räumen der Angst im Roman“ produktiv fortsetzen. Die kulturwissen-
schaftliche Basis des Projekts hat vom weitgespannten interdisziplinären Clusternetz
zweifellos profitiert.
Schließlich 2010 der Ruf nach Tübingen, das ich vor über einem Jahrzehnt
verlassen hatte und das ein verändertes Bild und ebenso veränderte Aufgabenfelder
bot. Vier dieser Felder möchte ich abschließend nennen: Erstens: Was ich mitbrächte,
war eine stärker kulturwissenschaftliche Ausrichtung, die sich bestens in das Gradu-
iertenkolleg „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800—1800)“, das 2011
seine Arbeit aufgenommen hat, einbringen ließ. Zweitens: Was ich vorfand, war eine
veränderte schulpolitische Situation mit erheblichen Auswirkungen auf die Lehr-
amtsausbildung. Hatten sich Altere und Neuere Literatur die Lehramtsausbildung im
Fach Deutsch bisher entlang der Zeitgrenze von 1500 gütlich und sinnvoll geteilt,
liegt nun das Orientierungsdatum, so die Ministerienbeschlüsse, bei 1850 mit deut-
189
heit, bei der es zwischen der Problematik eines fehlenden ,Individualität’-Begriffs in
mittelalterlichen Kontexten und einer kaum zu überschauenden Flut an Thesenbil-
dungen zur Renaissance vor der Renaissance in historisch angemessener Differen-
zierung hindurchzukommen galt.
Nach zweijähriger Mitarbeitertätigkeit und der Emeritierung von Walter Haug
verließ ich Tübingen. Meine inzwischen vierköpfige Familie hatte sich in Mainz nie-
dergelassen. Unterstützung fand ich durch ein DFG-Stipendium, anschließend durch
ein Post-Doc-Stipendium des Tübinger Graduiertenkollegs „Ars und Scientia im
Mittelalter und in der frühen Neuzeit“, bevor ich dann an der Mainzer Universität
über mehrere Jahre Fuß fasste. Insgesamt keine leichte Zeit: Kleine Kinder fordern
und verdienen große Eeidenschaft, Wissenschaft ebenso. Bei zwei Leidenschaften ist
gemeinhin eine zuviel. Zumal in einer Zeit, in der Kindertagesstätten noch rar
waren, Kindergartenplätze erst für Kinder ab vier Jahren zur Verfügung standen, die
Kindergärten um zwölf Uhr schlossen und an Ganztagsschulen noch lange nicht zu
denken war. Ein Stück Zeitgeschichte. Zwar bot die DFG - wir befinden uns in den
90er Jahren — Halbtagsstipendien, die Möglichkeit zu Erziehungsunterbrechungen
etc., doch ein gewisses Zähneknirschen ist in den Briefwechseln nicht ganz zu über-
hören. Gleichstellungsförderung lief weniger über die öffentlichen Programme als
über die großen Persönlichkeiten, meine beiden mediävistischen Väter sowie Georg
Wieland als Leiter des Graduiertenkollegs oder Uta Störmer-Caysa in Mainz — und
immer und vor allem meinen Mann. Inzwischen hat sich viel geändert, Gott sei
Dank, denn auf so viel Glück, wie ich es hatte, kann man nicht großflächig bauen,
ein plural-moderner Wissenschaftsstandort schon gar nicht.
Dann der Ruf an die FU Berlin: Zweierlei beeindruckte besonders: Zum einen
die Tatsache, dass eben hier Gleichstellungsförderung in einem lebendigen, inspirier-
ten und flexiblen Universitätsalltag — mit durchaus strategischer Organisation im Vor-
feld — kein Thema mehr war, weil es kein Thema mehr sein musste. Zum anderen
die Aufbruchsstimmung einer Universität, die gerade in den Geisteswissenschaften in
der Exzellenz herausragend aufgestellt und zum wiederholten Mal ausgezeichnet
worden war. Im Exzellenscluster Languages of Emotion fand ich dann auch rasch
Aufnahme und konnte dort ein zunächst durch die Thyssenstiftung finanziertes
Projekt zu „Räumen der Angst im Roman“ produktiv fortsetzen. Die kulturwissen-
schaftliche Basis des Projekts hat vom weitgespannten interdisziplinären Clusternetz
zweifellos profitiert.
Schließlich 2010 der Ruf nach Tübingen, das ich vor über einem Jahrzehnt
verlassen hatte und das ein verändertes Bild und ebenso veränderte Aufgabenfelder
bot. Vier dieser Felder möchte ich abschließend nennen: Erstens: Was ich mitbrächte,
war eine stärker kulturwissenschaftliche Ausrichtung, die sich bestens in das Gradu-
iertenkolleg „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800—1800)“, das 2011
seine Arbeit aufgenommen hat, einbringen ließ. Zweitens: Was ich vorfand, war eine
veränderte schulpolitische Situation mit erheblichen Auswirkungen auf die Lehr-
amtsausbildung. Hatten sich Altere und Neuere Literatur die Lehramtsausbildung im
Fach Deutsch bisher entlang der Zeitgrenze von 1500 gütlich und sinnvoll geteilt,
liegt nun das Orientierungsdatum, so die Ministerienbeschlüsse, bei 1850 mit deut-