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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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Sitzungen

trat bald eine Stelle als Assistenz-Professor an der Freien Universität Berlin an, und
wir zogen an die Grenze zwischen Schöneberg und Kreuzberg. Nicht nur in diesem
Quartier, auch an der Universität ging es lebhaft zu. Sozialgeschichte und Klassen-
kampf waren Trumpf. Beides konnte mich nicht schrecken; mit Unterschichten und
Marxismus kannte ich mich aus, und die geistige Atmosphäre empfand ich zum Teil
als durchaus anregend. Wir genossen das Treiben der Großstadt, fanden Freunde und
Feinde fürs Leben und verkehrten gelegentlich in Künstlerkreisen, wo er dem kriti-
schen Realismus huldigte und sie sich mit naiven Kätzchen revanchierte. Ich achtete
jedoch auch darauf, mich rasch zu habilitieren, was mir mit einer sozial- und kultur-
geschichtlich orientierten, methodisch auf der Verbindung schriftlicher und archäolo-
gischer Quellen aufbauenden Abhandlung über ‘Theaterpublikum und Gesellschaft in
der griechischen Welt’ gelang; Konzept und Materialsammlung waren noch in der
Princetoner Zeit entstanden. Als die Bordell-Szene von der nahen Potsdamer Straße
bis in unser Haus überschwappte, zogen wir gerade noch rechtzeitig um - ins kühle,
nüchterne Kiel, wohin ich 1977 den Ruf auf die einzige Professur für Alte Geschichte
in ganz Schleswig-Holstein erhielt.
Ich ging mit der jugendlichen Dynamik eines 32jährigen und manchem Tritt ins
Fettnäpfchen ans Werk, und es wurden fruchtbare Jahre: Unsere Kinderschar im
ersten Eigenheim wuchs auf vier, und vor allem während der ersten Jahre hatte ich das
Glück, begabte Studenten für mein Fach zu gewinnen, von denen einige inzwischen
selbst Professoren oder auf dem besten Weg dahin sind. Ich legte ferner einen Fundus
von nahezu 20 Vorlesungsskripten an sowie den Grundstock für meine Forschungen
zur Stadtgeschichte, historischen Landeskunde und Problemen der spätantiken Herr-
scherideologie, welche seitdem meine Forschungsschwerpunkte bilden.
Meine Forschungen zur Stadtgeschichte verfolgten das Ziel, die bis dahin im
wesentlichen nur als urbanistisches Phänomen von Architekten oder als Pohs und
Civitas, mithin als politisches Gebilde, von Althistorikern untersuchte antike Stadt auf
der Grundlage eines siedlungsgeographischen Stadtbegriffs in allen ihren Facetten -
nicht zuletzt den sozialen und wirtschaftlichen - darzustellen und auf diese Weise auch
klarer herauszuarbeiten, ab wann und unter welchen Bedingungen in der Antike Städ-
te entstanden. Die Studien zur spätantiken Herrscherideologie konzentrierten sich
zunächst auf deren Formierung zur Zeit der Tetrarchie und sind mittlerweile in eine
knappe Gesamtdarstellung eingemündet, welche erstmals versucht, die Herrscher-
ideologie der Spätantike nicht nur als Ausläufer des Prinzipats oder als Vorläufer des
byzantinisch-mittelalterlichen Kaiser- und Königtums, sondern vor allem in ihrer epo-
chenspezifischen Besonderheit zu verstehen.
Wurde in diesen Themenbereichen auf den Kieler Fundamenten in Tübingen wei-
ter aufgebaut, so gilt dies nur im konzeptionellen Sinne für meine schon in den 70er
Jahren bei Forschungsreisen in die Türkei entstandenen Pläne einer landeskundlich-
archäologischen Erforschung einer Siedlungskammer. Der Ruf nach 1 übingen im Jahr
1986 kam nicht nur deshalb rechtzeitig, weil sich von hier leichter Kontakte in den
Mittelmeerraum knüpfen, Gastprofessuren z.B. in Italien antreten und Forschungs-
aufenthalte in Rom zwecks Abfassung der ersten Geschichte des antiken Rom als
Stadt verbringen ließen. In Tübingen traf ich vor allem auf ein fachliches und finanzi-
elles Umfeld, in dem ich meine Vorstellungen zur detaillierten Erforschung der im
Vergleich zur antiken Stadt stark vernachlässigten ländlichen Siedlungs- und Wirt-
wirtschaftstrukturen - man könnte auch sagen: zum prosaischen Fundament der anti-
 
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