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Sitzungen
Wintersemester 69/70, und das ist insofern bedeutsam, als ich kein 68er mehr werden
konnte, sondern bloß noch ein 69er. Mit anderen Worten: als ich ankam, wurde nichts
mehr umgewälzt, es war bereits alles umgewälzt worden. Und es herrschte, so schien
es mir, eine Einheitlichkeit der Meinung, ja sogar des zu Meinenden, die ich geradezu
als Diktat empfand, obwohl ich mich keinesfalls als einen Konservativen verstand.
Nach der damaligen Termindogie fiel ich wohl am ehesten in die verächtliche Kate-
gorie ‘bürgerlicher Individualist’. Bei Helmut Viebrock besuchte ich mein erstes
Hauptseminar, doch wichtiger noch als die akademischen Lehrer waren die Diskus-
sionen mit den gleichaltrigen, vor allem aber den älteren Studenten. Es war spannend,
manchmal aufwühlend, man mußte lernen, sich zu behaupten, sich nicht von einem
übermächtigen Konsens vereinnahmen zu lassen. Nach dem dritten Semester folgte
ich meiner Freundin und späteren Frau - nicht etwa akademischen Vorsätzen - nach
München.
Dort gelangte ich in das Oberseminar des großen Shakespeare-Forschers Wolfgang
Clemen, das mir innerhalb des Massenbetriebes der Münchner Universität, in dem ich
mich nicht ungern, aber doch ziemlich einzelgängerisch tummelte, so etwas wie ein
Ankerplatz wurde. Meine Rolle im Seminar war bald gefunden. Da ich auch Theater-
wissenschaft studierte, war ich für das zuständig, was Clemen die ‘Dramaturgie’ nann-
te. Er meinte damit den Aufführungsaspekt, im Englischen würde man stagecraft
sagen.
Von Aristoteles in der Poetik als cnEXVOTaTOv, kunstlos, abqualifiziert, hat die
Inszenierung der abendländischen Dramenpoetik durchweg als das Zweitrangige, das
bloß Akzidentiell-äußerliche gegenüber der eigentlichen Substanz des Dramas gegol-
ten. Bezeichnend die Äußerung Goethes, Shakespeare gehöre notwendig in die
Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters trete er nur zufällig auf.
Während Theaterreformer bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Wertge-
fälle zwischen Drama und Inszenierung für aufgehoben erklärt hatten, überwog in den
Philologien noch bis in die sechziger-siebziger Jahre hinein die alte theaterabge-
wandte Sichtweise. Gerade bei Shakespeare aber, dessen Stücke nur dürftig mit expli-
ziten Bühnenanweisungen ausgestattet sind, ist der Text selbst um so reicher an impli-
ziten Inszenierungssignalen, liefert die Personenrede gleichsam die Transkription einer
gedachten Aufführung. Hier bot sich ein lohnendes Arbeitsfeld, mit dem ich mich
näher befassen wollte. Daß diese Beschäftigung auf eine akademische Laufbahn hin-
zielte, wurde mir erst klar, als Clemen mir anbot, meine Magisterarbeit so, wie sie war,
als Dissertation anzunehmen; was allerdings, wie er sagte, bedeuten würde, daß er mir
nicht die Höchstnote geben könne; aber das sei ja egal, denn ich wolle ja sowieso nicht
an die Universität, sondern Dramaturg werden. Ich ging daraufhin erst einmal ins
Kino, und als ich herauskam, stand mein Entschluß fest, die Magisterarbeit lieber doch
noch etwas auszubauen.
Dies geschah dann, als wir, meine Frau und ich, uns bereits in Edinburgh befanden,
wo ich als DAAD-Lektor an der Universität Deutschkurse gab. Zwei wunderbare
Jahre, in denen mir der Abschluß der Dissertation und das Schreiben eines zweiten,
nicht mehr ganz so bernhardinerischen Romans gar nicht wie Arbeit vorkamen. Die-
ser zweite Roman, der sehr übel für den Protagonisten ausgeht, trug den Titel
Die Heimsuchung des Assistenten Jung und gewann in bezug auf die an Edinburgh
anschließende Würzburger Assistentenzeit die sinistre Bedeutung eines sich selbst
erfüllenden Orakels. Obwohl ich damals, wenn man mich fragte, ob die Geschichte
Sitzungen
Wintersemester 69/70, und das ist insofern bedeutsam, als ich kein 68er mehr werden
konnte, sondern bloß noch ein 69er. Mit anderen Worten: als ich ankam, wurde nichts
mehr umgewälzt, es war bereits alles umgewälzt worden. Und es herrschte, so schien
es mir, eine Einheitlichkeit der Meinung, ja sogar des zu Meinenden, die ich geradezu
als Diktat empfand, obwohl ich mich keinesfalls als einen Konservativen verstand.
Nach der damaligen Termindogie fiel ich wohl am ehesten in die verächtliche Kate-
gorie ‘bürgerlicher Individualist’. Bei Helmut Viebrock besuchte ich mein erstes
Hauptseminar, doch wichtiger noch als die akademischen Lehrer waren die Diskus-
sionen mit den gleichaltrigen, vor allem aber den älteren Studenten. Es war spannend,
manchmal aufwühlend, man mußte lernen, sich zu behaupten, sich nicht von einem
übermächtigen Konsens vereinnahmen zu lassen. Nach dem dritten Semester folgte
ich meiner Freundin und späteren Frau - nicht etwa akademischen Vorsätzen - nach
München.
Dort gelangte ich in das Oberseminar des großen Shakespeare-Forschers Wolfgang
Clemen, das mir innerhalb des Massenbetriebes der Münchner Universität, in dem ich
mich nicht ungern, aber doch ziemlich einzelgängerisch tummelte, so etwas wie ein
Ankerplatz wurde. Meine Rolle im Seminar war bald gefunden. Da ich auch Theater-
wissenschaft studierte, war ich für das zuständig, was Clemen die ‘Dramaturgie’ nann-
te. Er meinte damit den Aufführungsaspekt, im Englischen würde man stagecraft
sagen.
Von Aristoteles in der Poetik als cnEXVOTaTOv, kunstlos, abqualifiziert, hat die
Inszenierung der abendländischen Dramenpoetik durchweg als das Zweitrangige, das
bloß Akzidentiell-äußerliche gegenüber der eigentlichen Substanz des Dramas gegol-
ten. Bezeichnend die Äußerung Goethes, Shakespeare gehöre notwendig in die
Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters trete er nur zufällig auf.
Während Theaterreformer bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Wertge-
fälle zwischen Drama und Inszenierung für aufgehoben erklärt hatten, überwog in den
Philologien noch bis in die sechziger-siebziger Jahre hinein die alte theaterabge-
wandte Sichtweise. Gerade bei Shakespeare aber, dessen Stücke nur dürftig mit expli-
ziten Bühnenanweisungen ausgestattet sind, ist der Text selbst um so reicher an impli-
ziten Inszenierungssignalen, liefert die Personenrede gleichsam die Transkription einer
gedachten Aufführung. Hier bot sich ein lohnendes Arbeitsfeld, mit dem ich mich
näher befassen wollte. Daß diese Beschäftigung auf eine akademische Laufbahn hin-
zielte, wurde mir erst klar, als Clemen mir anbot, meine Magisterarbeit so, wie sie war,
als Dissertation anzunehmen; was allerdings, wie er sagte, bedeuten würde, daß er mir
nicht die Höchstnote geben könne; aber das sei ja egal, denn ich wolle ja sowieso nicht
an die Universität, sondern Dramaturg werden. Ich ging daraufhin erst einmal ins
Kino, und als ich herauskam, stand mein Entschluß fest, die Magisterarbeit lieber doch
noch etwas auszubauen.
Dies geschah dann, als wir, meine Frau und ich, uns bereits in Edinburgh befanden,
wo ich als DAAD-Lektor an der Universität Deutschkurse gab. Zwei wunderbare
Jahre, in denen mir der Abschluß der Dissertation und das Schreiben eines zweiten,
nicht mehr ganz so bernhardinerischen Romans gar nicht wie Arbeit vorkamen. Die-
ser zweite Roman, der sehr übel für den Protagonisten ausgeht, trug den Titel
Die Heimsuchung des Assistenten Jung und gewann in bezug auf die an Edinburgh
anschließende Würzburger Assistentenzeit die sinistre Bedeutung eines sich selbst
erfüllenden Orakels. Obwohl ich damals, wenn man mich fragte, ob die Geschichte