25. November 2000
101
Sitzung der Phil.-hist. Klasse
am 25. November 2000
TOP 2 Zuwahlen wird vorgezogen
Die Herren Paul Kirchhof (Heidelberg) und Volker Sellin (Heidelberg) werden zu
o. Mitgliedern gewählt.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gedenkt die Klasse der verstorbenen Mitglieder Frau
Brigitte Schlieben-Lange und Herrn Hans Thieme.
Herr Franz wird als neues Mitglied begrüßt.
Der stellv. Sekretär gibt bekannt, daß Sekretär Graf Kielmansegg gegenwärtig durch
Krankheit verhindert ist, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen.
1. Herr Burghart Wachinger hält einen Vortrag: „Erzählen für die Gesundheit. Diä-
tetik und Literatur im Mittelalter“.
Die spätmittelalterlichen Regimina sanitatis geben Ratschläge, wie Gesundheits-
störungen durch Ausgleich zwischen den vier Körpersäften und den ihnen zuge-
ordneten Primärqualitäten vermieden oder behoben werden können. Dabei äußern
sie sich nicht nur zu Speisen und Getränken, sondern auch z. B. zu Schlaf und
Schlaflosigkeit und zu den Bewegungen des Gemüts. In diesem Rahmen wird auch
dem Geschichtenerzählen ein kleiner Platz im medizinisch-diätetischen Denk-
system eingeräumt. Besonders ausführlich spricht das sog. ‘Tacuinum sanitatis’
über die gesundheitsfördernden Aufgaben des Erzählers.
Die Literaten haben diese Hinweise der Regimina benutzt, um insbesondere solche
Literatur zu legitimieren, die vor den dominanten geistlich-moralischen Maßstäben
schwer bestehen konnte, d. h. vor allem schwankhaft-anstößige Erzählungen.
Dieses Legitimationsmuster ist im deutschen Sprachraum nur mit beträchtlicher
Verzögerung gegenüber West- und Südeuropa rezipiert worden. Voll ausgebildet
erscheint es erst in der lateinischen Kompilation ‘Mensa philosophica’, Köln um
1479; Vorstufen und Ansätze zur Konzeption dieses Werkchens aber finden sich in
Böhmen im Umkreis Kaiser Karls IV. in der Zeit der Pest.
Um dieselbe Zeit greift in Italien Boccaccio mit der Konzeption seines ‘Dekame-
ron’ Empfehlungen der Pestschriften und der allgemeinen Gesundheitsregimina
ebenso auf wie die literaturtheoretischen Ansätze zu einer Legitimierung des
Witzigen und Gewagten. Aber er macht mit seinen literarischen Mitteln deutlich,
daß nur im Kunst-Freiraum, aus dem die Gefährdungen durch Krankheit und Lei-
denschaften vorübergehend ausgegrenzt sind, das heitere Erzählen eine therapeuti-
sche Wirkung auf das Bewußtsein und damit auf die psychisch-moralische Gesund-
heit entfalten kann.
Die ausführliche Fassung ist erschienen als Band 23 der Schriften der Philosophisch-
historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,
101
Sitzung der Phil.-hist. Klasse
am 25. November 2000
TOP 2 Zuwahlen wird vorgezogen
Die Herren Paul Kirchhof (Heidelberg) und Volker Sellin (Heidelberg) werden zu
o. Mitgliedern gewählt.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gedenkt die Klasse der verstorbenen Mitglieder Frau
Brigitte Schlieben-Lange und Herrn Hans Thieme.
Herr Franz wird als neues Mitglied begrüßt.
Der stellv. Sekretär gibt bekannt, daß Sekretär Graf Kielmansegg gegenwärtig durch
Krankheit verhindert ist, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen.
1. Herr Burghart Wachinger hält einen Vortrag: „Erzählen für die Gesundheit. Diä-
tetik und Literatur im Mittelalter“.
Die spätmittelalterlichen Regimina sanitatis geben Ratschläge, wie Gesundheits-
störungen durch Ausgleich zwischen den vier Körpersäften und den ihnen zuge-
ordneten Primärqualitäten vermieden oder behoben werden können. Dabei äußern
sie sich nicht nur zu Speisen und Getränken, sondern auch z. B. zu Schlaf und
Schlaflosigkeit und zu den Bewegungen des Gemüts. In diesem Rahmen wird auch
dem Geschichtenerzählen ein kleiner Platz im medizinisch-diätetischen Denk-
system eingeräumt. Besonders ausführlich spricht das sog. ‘Tacuinum sanitatis’
über die gesundheitsfördernden Aufgaben des Erzählers.
Die Literaten haben diese Hinweise der Regimina benutzt, um insbesondere solche
Literatur zu legitimieren, die vor den dominanten geistlich-moralischen Maßstäben
schwer bestehen konnte, d. h. vor allem schwankhaft-anstößige Erzählungen.
Dieses Legitimationsmuster ist im deutschen Sprachraum nur mit beträchtlicher
Verzögerung gegenüber West- und Südeuropa rezipiert worden. Voll ausgebildet
erscheint es erst in der lateinischen Kompilation ‘Mensa philosophica’, Köln um
1479; Vorstufen und Ansätze zur Konzeption dieses Werkchens aber finden sich in
Böhmen im Umkreis Kaiser Karls IV. in der Zeit der Pest.
Um dieselbe Zeit greift in Italien Boccaccio mit der Konzeption seines ‘Dekame-
ron’ Empfehlungen der Pestschriften und der allgemeinen Gesundheitsregimina
ebenso auf wie die literaturtheoretischen Ansätze zu einer Legitimierung des
Witzigen und Gewagten. Aber er macht mit seinen literarischen Mitteln deutlich,
daß nur im Kunst-Freiraum, aus dem die Gefährdungen durch Krankheit und Lei-
denschaften vorübergehend ausgegrenzt sind, das heitere Erzählen eine therapeuti-
sche Wirkung auf das Bewußtsein und damit auf die psychisch-moralische Gesund-
heit entfalten kann.
Die ausführliche Fassung ist erschienen als Band 23 der Schriften der Philosophisch-
historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,