Brigitte Schlieben-Lange
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geprägt durch Basil Bernsteins Unterscheidung zwischen einem ‘elaborierten Code’
der Oberschicht und dem ‘restringierten Code’ einer sprachlich benachteiligten
Unterschicht. Die besondere Resonanz in Deutschland verdankte sich dem Umstand,
daß diese Lehre gut zu einer marxistisch inspirierten Zwei-Klassen-Theorie paßte. Der
Schliebensche Beitrag bedeutete damals eine vollständige Versachlichung der Diskus-
sion. Hier wurde - mit Coseriu - gezeigt, daß ‘Sprache’ stets in einem mindestens drei-
fach gegliederten Varietätenraum steht: sie hat ihre Dialekte (‘diatopische’ Variation),
ihre Soziolekte (‘diastratische’ Variation) und ihre verschiedenen Sprachstile (‘diapha-
sische’ Variation). Die Sprecher verfügen in jeweils verschiedener Weise in verschiede-
nen Situationen und in Abhängigkeit von ihrem fachlichen und sachlichen Wissen
über die jeweils möglichen Varianten. Eine Zweiteilung in restringierte und elaborier-
te Formen der Sprache erwies sich aus dieser Sicht als krude Simplifizierung, mithin
als völlig unzureichend für die Modellierung sprachlicher Realität.
1975 folgte eine ebenso wichtige Einführung in die sprachwissenschaftliche Prag-
matik: Sprechen ist in Situationen und Kontexte eingebettet, Sprecher handeln, wenn
sie sprechen, sie verfolgen mit ihren Äußerungen Intentionen und Ziele, und sie tun
dies in einer Weise, die der jeweiligen Situation entspricht - so ist z.B. auch die
Beschäftigung mit der Höflichkeit ein wichtiger Gegenstand der Sprachwissenschaft
geworden. Beide Einführungen haben nicht nur zwei bzw. drei deutsche Auflagen
erreicht, sie existieren auch in spanischer, italienischer und japanischer Sprache.
Die nächste Phase in der Entwicklung war, daß Brigitte Schlieben-Lange in den acht-
ziger Jahren den soziolinguistischen und den pragmatischen Ansatz auf die Sprachge-
schichte ausdehnte und so die Opposition zwischen einer syn- und einer diachroni-
schen Sprachwissenschaft auf einer höheren Ebene, derjenigen ganzer Texte, wieder
überwand. 1983 erschien das Buch Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragma-
tischen Sprachgeschichtsschreibung. Es zeigt, daß Textgattungen in ‘Traditionen des
Sprechens’ eingebettet sind, und daß Gattungstraditionen sich gerade auch durch die
Tradierung bestimmter, gattungsspezifischer sprachlicher Formen auszeichnen. Die
Fähigkeit, Texte einer bestimmten Gattung zu schreiben, erwächst aus langen Lern-
prozessen, in denen das sprechende oder schreibende Individuum sich die Regeln der
Gattung nach und nach aneignet. Wie eine 1987 publizierte Arbeit zur volkssprachli-
chen Historiographie des romanischen Mittelalters zeigte, verändern sich solche
Texttraditionen nur sehr langsam, sie zeigen aber in ihrem Wandel gerade auch die Ver-
änderung der pragmatischen Einbettung, hier also der Absicht und der Geschichts-
konzeption ihrer Verfasser.
Solche Erkenntnisse waren und sind nicht nur für die Sprachwissenschaft von Inter-
esse, sondern mindestens ebenso für die Geschichtswissenschaft. So hat z.B. die
moderne Historiographe die - kompetent und gut geschriebenen - Berichte der spa-
nischen Konquistadoren immer als erstklassige historische Quellen angesehen. Dabei
handelt es sich bei der überhaupt nicht historiographischen Gattung der relacion, der
die Texte angehören, um Rechtfertigungsschriften gegenüber der spanischen Krone,
die vor allem gesetzes- und vertragskonformes Verhalten belegen sollen, also den
Eroberer immer im besten Licht zeigen müssen.
Eine vierte Phase der Entwicklung von Brigitte Schlieben-Lange setzt ein mit der
Beschäftigung mit den ideologistes (so ihre Eigenbezeichnung), einer Gruppe franzö-
sischer Wissenschaftler der Spätaufklärung, die sich in den Jahren nach 1789 dem Ziel
verschrieben hatten, ein Bildungsprogramm für alle zu entwerfen. ‘Ideologie’ bedeu-
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geprägt durch Basil Bernsteins Unterscheidung zwischen einem ‘elaborierten Code’
der Oberschicht und dem ‘restringierten Code’ einer sprachlich benachteiligten
Unterschicht. Die besondere Resonanz in Deutschland verdankte sich dem Umstand,
daß diese Lehre gut zu einer marxistisch inspirierten Zwei-Klassen-Theorie paßte. Der
Schliebensche Beitrag bedeutete damals eine vollständige Versachlichung der Diskus-
sion. Hier wurde - mit Coseriu - gezeigt, daß ‘Sprache’ stets in einem mindestens drei-
fach gegliederten Varietätenraum steht: sie hat ihre Dialekte (‘diatopische’ Variation),
ihre Soziolekte (‘diastratische’ Variation) und ihre verschiedenen Sprachstile (‘diapha-
sische’ Variation). Die Sprecher verfügen in jeweils verschiedener Weise in verschiede-
nen Situationen und in Abhängigkeit von ihrem fachlichen und sachlichen Wissen
über die jeweils möglichen Varianten. Eine Zweiteilung in restringierte und elaborier-
te Formen der Sprache erwies sich aus dieser Sicht als krude Simplifizierung, mithin
als völlig unzureichend für die Modellierung sprachlicher Realität.
1975 folgte eine ebenso wichtige Einführung in die sprachwissenschaftliche Prag-
matik: Sprechen ist in Situationen und Kontexte eingebettet, Sprecher handeln, wenn
sie sprechen, sie verfolgen mit ihren Äußerungen Intentionen und Ziele, und sie tun
dies in einer Weise, die der jeweiligen Situation entspricht - so ist z.B. auch die
Beschäftigung mit der Höflichkeit ein wichtiger Gegenstand der Sprachwissenschaft
geworden. Beide Einführungen haben nicht nur zwei bzw. drei deutsche Auflagen
erreicht, sie existieren auch in spanischer, italienischer und japanischer Sprache.
Die nächste Phase in der Entwicklung war, daß Brigitte Schlieben-Lange in den acht-
ziger Jahren den soziolinguistischen und den pragmatischen Ansatz auf die Sprachge-
schichte ausdehnte und so die Opposition zwischen einer syn- und einer diachroni-
schen Sprachwissenschaft auf einer höheren Ebene, derjenigen ganzer Texte, wieder
überwand. 1983 erschien das Buch Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragma-
tischen Sprachgeschichtsschreibung. Es zeigt, daß Textgattungen in ‘Traditionen des
Sprechens’ eingebettet sind, und daß Gattungstraditionen sich gerade auch durch die
Tradierung bestimmter, gattungsspezifischer sprachlicher Formen auszeichnen. Die
Fähigkeit, Texte einer bestimmten Gattung zu schreiben, erwächst aus langen Lern-
prozessen, in denen das sprechende oder schreibende Individuum sich die Regeln der
Gattung nach und nach aneignet. Wie eine 1987 publizierte Arbeit zur volkssprachli-
chen Historiographie des romanischen Mittelalters zeigte, verändern sich solche
Texttraditionen nur sehr langsam, sie zeigen aber in ihrem Wandel gerade auch die Ver-
änderung der pragmatischen Einbettung, hier also der Absicht und der Geschichts-
konzeption ihrer Verfasser.
Solche Erkenntnisse waren und sind nicht nur für die Sprachwissenschaft von Inter-
esse, sondern mindestens ebenso für die Geschichtswissenschaft. So hat z.B. die
moderne Historiographe die - kompetent und gut geschriebenen - Berichte der spa-
nischen Konquistadoren immer als erstklassige historische Quellen angesehen. Dabei
handelt es sich bei der überhaupt nicht historiographischen Gattung der relacion, der
die Texte angehören, um Rechtfertigungsschriften gegenüber der spanischen Krone,
die vor allem gesetzes- und vertragskonformes Verhalten belegen sollen, also den
Eroberer immer im besten Licht zeigen müssen.
Eine vierte Phase der Entwicklung von Brigitte Schlieben-Lange setzt ein mit der
Beschäftigung mit den ideologistes (so ihre Eigenbezeichnung), einer Gruppe franzö-
sischer Wissenschaftler der Spätaufklärung, die sich in den Jahren nach 1789 dem Ziel
verschrieben hatten, ein Bildungsprogramm für alle zu entwerfen. ‘Ideologie’ bedeu-