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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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tet hier ‘Ideenlehre’: wenn wir wahrnehmen, konzeptualisieren wir und belegen diese
Konzepte (Ideen) mit sprachlichen Zeichen. Es kommt darauf an, wie man diese Zei-
chen verwendet und miteinander kombiniert. Grammatik und Logik sind Teildiszipli-
nen einer so verstandenen ‘Ideologie’. Sie sollten insbesondere Lehrern als Basiswissen
vermittelt werden. Eine Synthese der langjährigen Beschäftigung mit diesem Thema
bildet das Buch Ideologie, revolution et uniformite de la langue (1996), das zugleich
zeigt, wie Napoleon, dem die Vorstellung einer gebildeten Masse nicht gefallen woll-
te, erfolgreich den Begriffen ‘Ideologie’ und ‘ideologues’ - so nannte er sie - ihre heu-
tige, den Intentionen der Schöpfer völlig entgegengesetzte Bedeutung verlieh: Ziel der
ideologistes war - im heutigen Sinn - gerade die Ideologiekritik.
Im April 1998 hat Brigitte Schlieben-Lange in einem unvergessenen (und noch vor
ihrem Tod in den Schriften der Akademie gedruckt erschienenen) Vortrag vor der phi-
losophisch-historischen Klasse am Beispiel der ideologistes und ihrer Lehre nicht nur
die Bedeutung einer allgemeinen Semiotik für die Wissenschaft erläutert, sondern auch
gezeigt, wie ‘Wissenschaft’ als semiotischer Prozeß funktioniert: nicht nur mit Hilfe
bestimmter ‘Traditionen des Sprechens’, sondern auch dadurch, daß man wichtige
Begriffe besetzt, vorzugsweise solche, die zugleich ein Verfahren und einen Objektbe-
reich abstecken (Phänomenologie, Hermeneutik, Empirismus, Rationalismus, mole-
kulare Genetik), und daß man versucht, solche Begriffe oder, wie sie es nannte, ‘Klas-
sifikatoren’ zur Bildung einer ‘Schule’ einzusetzen. Konkurrierende Richtungen ver-
suchen dann, die entsprechenden Begriffe anders zu definieren, in andere Kontexte
einzubetten, andere Relevanzgeschichtspunkte zu setzen, also die Realität anders zu
modellieren.
Brigitte Schlieben-Lange hat mit jeder dieser Phasen ihrer wissenschaftlicher Ent-
wicklung weiter ausgegriffen: von der Systemlinguistik mit romanistischem Gegen-
stand (Galloromania, Iberoromania, Lateinamerika, französisches Mittelalter) auf eine
noch synchrone Soziolinguistik und Pragmatik. Deren Historisierung führte zu
Beiträgen, die für die Textwissenschaften insgesamt, also auch die Literatur- oder
die Geschichtswissenschaft, bedeutsam sind. Das Eingehen auf eine besonders interes-
sante Umbruchsituation während und nach der französischen Revolution mündete in
eine Semiotik, die man als Meta-Disziplin des Wissenschaftsbetriebs selbst verstehen
kann.
Brigitte Schlieben-Lange war mit einer solchen Breite des Wissens und der Interes-
sen ein ideales Akademiemitglied. Zugleich war sie völlig unprätentiös, natürlich,
engagiert, mitreißend, kooperativ, fähig, andere zu begeistern und sich selbst begei-
stern zu lassen. Kurz, eine wunderbare Frau. Die Antrittsrede in der Heidelberger
Akademie zeigt, daß weitere Horizonte angedacht waren. Um so schmerzlicher ist der
Verlust, den ihr früher Tod bedeutet.
 
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