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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

DOI Kapitel:
I. Das akademische Jahr 2013
DOI Artikel:
Kirchhof, Paul: Festrede von Paul Kirchhof: „Der Auftrag einer Akademie in Zeiten kulturellen Umbruchs“
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0032
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25. Mai 2013

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explizit — in empirischen Erhebungen, technischen Daten, mathematischen For-
meln, grammatisch und semantisch korrekten Sätzen — ausdrücken lassen. Wir
erfahren dabei aber immer wieder, dass es auch ein Wissen gibt, das jenseits dieser
formalen Erfahrung — implizit — von der Lebenssicht und Lebensklugheit des Ein-
zelnen, seinen persönlichen Überzeugungen, Hoffnungen, Einschätzungen, Ent-
täuschungen, Ahnungen und Leitbildern bestimmt wird. Wenn gesagt wird, diese
Wissenschaftsfreiheit sei voraussetzungslos und wertfrei, so wird damit zu Recht
gefordert, dass die Wissenschaft sich nicht gesellschaftlichen und politischen
Wünschbarkeiten unterwirft, ihre Erkenntnis nicht in den Dienst gewollter
Opportunität stellt. Aber selbstverständlich ereignet sich Wissenschaft nicht ohne
Voraussetzungen und nicht ohne Werte. Der Atomphysiker darf seine Spaltexperi-
mente nicht an beliebigem Ort machen, der Arzt seine Menschenexperimente
nicht ohne Rücksicht auf den betroffenen Patienten durchführen, der Jurist die
Aussagebereitschaft eines Beschuldigten nicht durch Anwendung der Folter expe-
rimentell erproben, der Historiker nicht durch Geschichtsumdeutung eine
gescheiterte Staatsform empfehlen. Wissenschaft handelt vom Menschen, ist des-
halb in geistiger Weite für alle Folgen offen, die wissenschaftliches Handeln für den
Menschen haben kann.
Unsere Akademie sucht die Offenheit und geistige Weite einer voraussetzungs-
und wertebewussten Wissenschaft strukturell durch die Unterscheidung zwischen
Erfahrungswissen und Orientierungswissen zu gewährleisten. Unser Dialog wird
zwischen zwei Klassen, nicht unter vielen Fakultäten geführt. Der Mensch denkt
„im Raum der Ursachen“, in dem ein Mensch verhungert, ein Unfall geschieht, ein
Arzneimittel erfunden wird, ein Astronaut zum Mond fährt, und in dem „Raum der
Gründe“, in dem der Mensch den Sinn und die Bedeutung seines Lebens ergrün-
den, seine Endlichkeit verstehen, seine Lebensformen und seine Lebensmaximen
rechtfertigen will. Ein Leben im Raum der Ursachen und der Gründe gibt dem
Denken Weite. Weite bedeutet Wagnis. Das Erfahrungswissen — unsere naturwissen-
schaftlich — mathematische Klasse — sagt dem Menschen, wie er das, was er tun
will, tatsächlich tun kann. Das Orientierungswissen — die philosophisch-historische
Klasse — antwortet auf die Frage, was der Mensch tun soll, tun darf. Erfahrungs- und
Orientierungswissen regen sich gegenseitig an und mäßigen sich. Das Beobachten
der Natur bewahrt die Geisteswissenschaften vor Erfahrungsmangel. Das Wissen von
den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens bewahrt die Naturwissen-
schaften vor Orientierungsmangel. Beides rückt den Menschen in die Mitte des
Denkens, schafft Verantwortlichkeit für den Menschen und vor den Menschen. Hät-
ten wir mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Atomspaltung zugleich einen
Atomwaffensperrvertrag durchgesetzt, wäre der Segen naturwissenschaftlichen
Erkennens nicht von einem Fluch begleitet. Würden wir gegenwärtig in der Frage
des Umgangs mit Genen naturwissenschaftlich erhoffte Heilerfolge deutlicher
berücksichtigen, würden vielleicht Denkbarrieren entfallen, Gegenläufigkeiten von
Naturwissenschaft und Orientierungswissenschaft in einem gemeinsamen Weg ver-
eint. Dabei bleibt ehrliches Bemühen um Erkenntnis stets unvollendet. Aus diesem
Nicht-Enden-Wollen erwächst Ethik.
 
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