56 | JAHRESFEIER
Wir haben zwei Forschungsprojekte, das Deutsche Rechtswörterbuch und die
Arbeit an den Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, die sich mit
dem Postulat eines Handelns nach bestem „Wissen und Gewissen“ auseinandersetz-
ten. Wenn hier eine Kultur des Zusammenklangs von Erkennen und Verantworten
für die Gegenwart erschlossen wird, ist dieses vielleicht einer der wesentlichen
Beiträge zu unserer gegenwärtigen Kultur der Freiheit. Ich erinnere an die
Geschichte des Gewissensbegriffs. Gewissen ist für Cicero die Fähigkeit zur morali-
schen Selbstbefragung (conscientia), wird dann zum Anknüpfungspunkt für soziale
Wertschätzung (dignitas). Die christliche Theologie versteht unter Gewissen den
inneren Ort, an dem sich der Mensch vor Gott verantwortet. Die reformatorische
Theologie individualisiert die Idee des Gewissens, die letztlich zu selbstbestimmtem
religiösem Leben berechtigt. Dies wird in der Verfassungstradition der Vereinigten
Staaten, die von Menschen auf der Flucht vor europäischer religiöser Fremdbestim-
mung gegründet worden sind, zu einem Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Im
Sog der Säkularisierung löst sich das Gewissen vom Glauben, wird als letzte und
höchste Instanz der autonomen Persönlichkeit begriffen. Und heute stehen wir vor
der Aufgabe, diese Selbstbestimmtheit auf verallgemeinerungsfähige Maßstäbe aus-
zurichten, also — vereinfacht gesprochen — Aristoteles Regeln vom guten Leben,
Kants kategorischen Imperativ und die modernen Ideen der Allgemeinheit zu einer
Suche nach dem jeweils angemessenen Grad der Verallgemeinerung zu verbinden.
Diese Allgemeinheit scheint sich aus der Gesetzgebung zu verabschieden und im
Gewissen eine neue Heimat zu suchen.
Ich versuche erneut, Sie in der Leichtigkeit und Unbeschwertheit zugespitzten
Fragens auf den Weg zu bringen, der vom Zurückweisen des vermeintlich Utopi-
schen zum beherzten Hoffen führt. Übersteigt es unsere Vorstellungskraft, zur
Renaissance der Idee der Allgemeinheit für Wissen und Gewissen beizutragen,
indem wir die Menschen veranlassen, einmal in der Woche
— in den Lehren des Aristoteles vom guten Leben zu lesen,
— acht Zeilen der Verse von Sebastian Brants Das Narrenschiff auswendig zu lernen,
— das Bild von den Weisen aus dem Morgenland, die dem Stern folgten und sich
dem Kind widmeten, in unsere Gegenwart hineinzudenken?
V. Das Erfassen der Umbrüche im Dialog der Generationen
Wir haben unsere Aufgabe der Akademie in einer Zeit elementarer kultureller
Umbrüche zu erfüllen. Der innere Zusammenhalt der Gesellschaft, die gegenseitige,
gemeinschaftstiftende Verbundenheit, die Solidarität scheint einer individuellen Frei-
heitlichkeit zu weichen, die sich des Friedens, der Existenzgrundlagen, einer funk-
tionierenden Arbeitsteilung gewiss ist. In dieser Scheingewissheit sondert sich der
einzelne Mensch von einer kulturell vielfältigen, von Migrationsbewegungen und
der Begegnung verschiedener Kulturen geprägten, deshalb integrationsbedürftigen
Gesellschaft ab. Diese Entwicklung können wir am besten erfassen und aus der Sicht
einer vorausschreitenden Wissenschaft beantworten, wenn erfahrene Wissenschaftler
sich mit jungen Wissenschaftlern austauschen, Kontinuität und Gegenwartsgerech-
Wir haben zwei Forschungsprojekte, das Deutsche Rechtswörterbuch und die
Arbeit an den Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, die sich mit
dem Postulat eines Handelns nach bestem „Wissen und Gewissen“ auseinandersetz-
ten. Wenn hier eine Kultur des Zusammenklangs von Erkennen und Verantworten
für die Gegenwart erschlossen wird, ist dieses vielleicht einer der wesentlichen
Beiträge zu unserer gegenwärtigen Kultur der Freiheit. Ich erinnere an die
Geschichte des Gewissensbegriffs. Gewissen ist für Cicero die Fähigkeit zur morali-
schen Selbstbefragung (conscientia), wird dann zum Anknüpfungspunkt für soziale
Wertschätzung (dignitas). Die christliche Theologie versteht unter Gewissen den
inneren Ort, an dem sich der Mensch vor Gott verantwortet. Die reformatorische
Theologie individualisiert die Idee des Gewissens, die letztlich zu selbstbestimmtem
religiösem Leben berechtigt. Dies wird in der Verfassungstradition der Vereinigten
Staaten, die von Menschen auf der Flucht vor europäischer religiöser Fremdbestim-
mung gegründet worden sind, zu einem Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Im
Sog der Säkularisierung löst sich das Gewissen vom Glauben, wird als letzte und
höchste Instanz der autonomen Persönlichkeit begriffen. Und heute stehen wir vor
der Aufgabe, diese Selbstbestimmtheit auf verallgemeinerungsfähige Maßstäbe aus-
zurichten, also — vereinfacht gesprochen — Aristoteles Regeln vom guten Leben,
Kants kategorischen Imperativ und die modernen Ideen der Allgemeinheit zu einer
Suche nach dem jeweils angemessenen Grad der Verallgemeinerung zu verbinden.
Diese Allgemeinheit scheint sich aus der Gesetzgebung zu verabschieden und im
Gewissen eine neue Heimat zu suchen.
Ich versuche erneut, Sie in der Leichtigkeit und Unbeschwertheit zugespitzten
Fragens auf den Weg zu bringen, der vom Zurückweisen des vermeintlich Utopi-
schen zum beherzten Hoffen führt. Übersteigt es unsere Vorstellungskraft, zur
Renaissance der Idee der Allgemeinheit für Wissen und Gewissen beizutragen,
indem wir die Menschen veranlassen, einmal in der Woche
— in den Lehren des Aristoteles vom guten Leben zu lesen,
— acht Zeilen der Verse von Sebastian Brants Das Narrenschiff auswendig zu lernen,
— das Bild von den Weisen aus dem Morgenland, die dem Stern folgten und sich
dem Kind widmeten, in unsere Gegenwart hineinzudenken?
V. Das Erfassen der Umbrüche im Dialog der Generationen
Wir haben unsere Aufgabe der Akademie in einer Zeit elementarer kultureller
Umbrüche zu erfüllen. Der innere Zusammenhalt der Gesellschaft, die gegenseitige,
gemeinschaftstiftende Verbundenheit, die Solidarität scheint einer individuellen Frei-
heitlichkeit zu weichen, die sich des Friedens, der Existenzgrundlagen, einer funk-
tionierenden Arbeitsteilung gewiss ist. In dieser Scheingewissheit sondert sich der
einzelne Mensch von einer kulturell vielfältigen, von Migrationsbewegungen und
der Begegnung verschiedener Kulturen geprägten, deshalb integrationsbedürftigen
Gesellschaft ab. Diese Entwicklung können wir am besten erfassen und aus der Sicht
einer vorausschreitenden Wissenschaft beantworten, wenn erfahrene Wissenschaftler
sich mit jungen Wissenschaftlern austauschen, Kontinuität und Gegenwartsgerech-