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JAHRESFEIER
auf Verstellbarkeit, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit, Verhältnismäßigkeit
und den vernünftigen Grund, der rechtliche Unterscheidungen vor dem Gleich-
heitssatz rechtfertigt. Wer Recht fertigt, muss das entstandene Recht rechtfertigen.
Doch Demokratie, die das Gestalten des Gemeinwesen dem Willen des Wählers und
sodann des gewählten Repräsentanten überantwortet, scheint gelegentlich eher
Abbild der Irrationalität. Wir erleben täglich, dass die demokratische Entscheidung
nicht Ausdruck von Rationalität und Begründung ist, vielmehr aus politischem Wil-
len, aus Machtstreben, aus Hoffnung und Enttäuschung, aus Bewunderung und Hass,
aus parteipolitischer Konkurrenz und Antithese, aus Müdigkeit und Gewohnheit
erwächst. Wenn wir dieses Geschehen wissenschaftlich analysieren, stellen wir ver-
dutzt fest, dass wir keinen klaren Maßstab besitzen, um den legitimen Willen des
demokratischen Gesetzgebers — einer Rechtsentstehensquelle — von gesetzgeberi-
scher Willkür — offensichtliches Unrecht — zu unterscheiden.
Den Akademien sollte es gelingen, im Gespräch mit der jungen Wissenschaft
diesen Wissensdialog zu beleben, die Internationalität und Supranationalität des Den-
kens und Handelns kulturell zu fundieren, die Universalität mit einem leitenden
Gedanken zu festigen, in einer neuen Aufklärung Rationalität mit freiem Willen zu
verbinden und das unabgeschlossene Wissen zum Hoffen, zur Ethik zu führen.
Ich versuche erneut, in unbekümmerter Vereinfachung die kulturelle Erfah-
rung zu vermitteln, dass sich die Gegenwart in ihrer kulturellen Bedingtheit, in ihrer
Geschichte leichter verstehen und bewältigen lässt, wenn die Akademien Kulturgut
für die Gegenwart erschließen und dabei diese Gegenwart in das Bewusstsein der jun-
gen Wissenschaftlergeneration tragen. Zu Beginn der Wiedervereinigung Deutsch-
lands stellten sieben Abgeordnete des Deutschen Bundestages beim Bundesverfas-
sungsgericht den Antrag, es möge dem Bundestag die Zustimmung zum Einigungs-
vertrag untersagen, weil der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der
DDR das deutsche Grundgesetz ändere. Ein Richter tut sich schwer, den Prozess der
Wiedervereinigung durch eine einstweilige Anordnung aufzuhalten, wohl wissend,
dass die historische Chance der Vereinigung einmalig ist. Ein Richter tut sich aber
ebenso schwer anzuerkennen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag mit einer fremden
Macht die eigene Verfassung ändern dürfe, weil die Verfassungsänderung ein ureige-
nes Recht des jeweiligen Staatsvolkes ist. Doch begegnen sich bei der Suche nach
der Lösung rechtliche Kulturerfahrung und aktuelles Gegenwartserlebnis - der
Berichterstatter berät mit seinen Mitarbeitern —, ist die Lösung des Falles einfach,
geradezu lapidar. Historisches Wissen macht bewusst, dass der Einigungsvertrag nur
die Einheit herstellen will, die es bereits unter früheren Verfassungen gegeben hat
und deren Wiederherstellung das Grundgesetz fordert. Das Gegenwartsbewusstsein
nimmt den Ruf „Wir sind das Volk“ auf und sieht darin eine Legitimationsquelle für
Verfassungsrecht von besonderer Entschiedenheit und historischem Mut.
Der Einigungsvertrag war zwar formal ein Vertrag zwischen zwei Staaten mit
bisher eher gegenläufiger Politik, ist kulturell aber Ausdruck des einen deutschen
Volkes, das die Teilung überwinden und sich wiedervereinigen will, dabei aber nicht
erwarten darf, dass der eine Teil — die bisherigen Bürger der DDR - die Verfassung
des anderen Teils, das Grundgesetz, vorbehaltlos akzeptieren, sie sich vielmehr über
JAHRESFEIER
auf Verstellbarkeit, Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit, Verhältnismäßigkeit
und den vernünftigen Grund, der rechtliche Unterscheidungen vor dem Gleich-
heitssatz rechtfertigt. Wer Recht fertigt, muss das entstandene Recht rechtfertigen.
Doch Demokratie, die das Gestalten des Gemeinwesen dem Willen des Wählers und
sodann des gewählten Repräsentanten überantwortet, scheint gelegentlich eher
Abbild der Irrationalität. Wir erleben täglich, dass die demokratische Entscheidung
nicht Ausdruck von Rationalität und Begründung ist, vielmehr aus politischem Wil-
len, aus Machtstreben, aus Hoffnung und Enttäuschung, aus Bewunderung und Hass,
aus parteipolitischer Konkurrenz und Antithese, aus Müdigkeit und Gewohnheit
erwächst. Wenn wir dieses Geschehen wissenschaftlich analysieren, stellen wir ver-
dutzt fest, dass wir keinen klaren Maßstab besitzen, um den legitimen Willen des
demokratischen Gesetzgebers — einer Rechtsentstehensquelle — von gesetzgeberi-
scher Willkür — offensichtliches Unrecht — zu unterscheiden.
Den Akademien sollte es gelingen, im Gespräch mit der jungen Wissenschaft
diesen Wissensdialog zu beleben, die Internationalität und Supranationalität des Den-
kens und Handelns kulturell zu fundieren, die Universalität mit einem leitenden
Gedanken zu festigen, in einer neuen Aufklärung Rationalität mit freiem Willen zu
verbinden und das unabgeschlossene Wissen zum Hoffen, zur Ethik zu führen.
Ich versuche erneut, in unbekümmerter Vereinfachung die kulturelle Erfah-
rung zu vermitteln, dass sich die Gegenwart in ihrer kulturellen Bedingtheit, in ihrer
Geschichte leichter verstehen und bewältigen lässt, wenn die Akademien Kulturgut
für die Gegenwart erschließen und dabei diese Gegenwart in das Bewusstsein der jun-
gen Wissenschaftlergeneration tragen. Zu Beginn der Wiedervereinigung Deutsch-
lands stellten sieben Abgeordnete des Deutschen Bundestages beim Bundesverfas-
sungsgericht den Antrag, es möge dem Bundestag die Zustimmung zum Einigungs-
vertrag untersagen, weil der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der
DDR das deutsche Grundgesetz ändere. Ein Richter tut sich schwer, den Prozess der
Wiedervereinigung durch eine einstweilige Anordnung aufzuhalten, wohl wissend,
dass die historische Chance der Vereinigung einmalig ist. Ein Richter tut sich aber
ebenso schwer anzuerkennen, dass ein völkerrechtlicher Vertrag mit einer fremden
Macht die eigene Verfassung ändern dürfe, weil die Verfassungsänderung ein ureige-
nes Recht des jeweiligen Staatsvolkes ist. Doch begegnen sich bei der Suche nach
der Lösung rechtliche Kulturerfahrung und aktuelles Gegenwartserlebnis - der
Berichterstatter berät mit seinen Mitarbeitern —, ist die Lösung des Falles einfach,
geradezu lapidar. Historisches Wissen macht bewusst, dass der Einigungsvertrag nur
die Einheit herstellen will, die es bereits unter früheren Verfassungen gegeben hat
und deren Wiederherstellung das Grundgesetz fordert. Das Gegenwartsbewusstsein
nimmt den Ruf „Wir sind das Volk“ auf und sieht darin eine Legitimationsquelle für
Verfassungsrecht von besonderer Entschiedenheit und historischem Mut.
Der Einigungsvertrag war zwar formal ein Vertrag zwischen zwei Staaten mit
bisher eher gegenläufiger Politik, ist kulturell aber Ausdruck des einen deutschen
Volkes, das die Teilung überwinden und sich wiedervereinigen will, dabei aber nicht
erwarten darf, dass der eine Teil — die bisherigen Bürger der DDR - die Verfassung
des anderen Teils, das Grundgesetz, vorbehaltlos akzeptieren, sie sich vielmehr über