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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Kirchhof, Paul: Festrede von Paul Kirchhof: „Der Auftrag einer Akademie in Zeiten kulturellen Umbruchs“
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0036
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25. Mai 2013

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den Inhalt der neuen Gesamtverfassung verständigen wollen. Rechtstechnisch hat
das Gericht den Einigungsvertrag deshalb durch Artikel 23 des Grundgesetzes
gerechtfertigt, der zur Wiedervereinigung verpflichtete, dann aber durch den Eini-
gungsvertrag aufgehoben werden sollte. Mit dieser Begründung war der Präzedenz-
fall für eine vereinbarte Verfassungsänderung für die Zukunft ausgeschlossen. Der
Artikel 23 enthält heute den Auftrag zur europäischen Integration.
Alle unsere Mitglieder verfügen über Kulturerfahrung, über Umbrucherfah-
rungen, die sie gern mit jungen Wissenschaftlern teilen wollen. Zugleich nehmen sie
die Erfahrungen und Lebenssichten der jungen Wissenschaftler in ihr Erkennen und
Ergründen auf.
VI Leistungsfähigkeit der Akademie
Das große Bild der Kulturgemeinschaft, in der wir leben wollen, setzt sich aus vie-
len Mosaiksteinchen zusammen. Wissenschaftliche Akademien können den einen
oder anderen dieser Steine entdecken, für das Gesamtwerk zurechtschleifen und
polieren, seinen Standort im Gesamtwerk vorschlagen. Im Zusammenwirken der
Mosaiksteine werden sich dann Lebenserfahrungen, Lebensklugheiten, vielleicht
sogar Lebensweisheiten entwickeln. Prinzipien werden erkennbar, Werte definierbar.
Aus diesen Prinzipien erwächst der Mut, für eine bestimmte kulturelle Prägung der
Gesellschaft einzustehen. Ohne diesen Kulturmut überließe die Wissenschaft die
Gestaltung unserer Gesellschaft anderen Gruppen, insbesondere der Wirtschaft, die
unbeirrt und mit großer Entschiedenheit ihrem Prinzip der Gewinnmaximierung
folgt und dadurch unsere Gesellschaft dominiert. Dieses Prinzip der Maximierung
von Eigennutz und persönlichem Profit allerdings ist ein Prinzip der Maßstablosig-
keit und damit der Maßlosigkeit.
Doch sind wir nicht überfordert, wenn wir derartige Erwartungen an die Aka-
demie stellen, uns aber die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten jeder Wissenschaft
und jedes Wissenschaftlers bewusst machen? Die Antwort ist einfach: Wir stellen in
Bescheidenheit einen elitären Anspruch an uns selbst. Wir formulieren Erwartungen
an unsere eigene Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit, ohne daraus Lei-
stungsversprechen ableiten zu wollen. Aber wir haben keinen Anlass, auch kein
Recht, kleinmütig zu sein.
Große Gedanken setzen sich durch. Als nach der französischen Revolution
erstmals die Menschen- und Bürgerrechte erklärt wurden, wurde eine Fußnote hin-
zugefügt, die besagte, dass diese Rechte nicht für Gaukler, Scharfrichter und Prote-
stanten gälten. Doch der Gedanke von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit für Jeder-
mann war stärker als der Kleinmut derer, die diese Fußnote formuliert hatten. Sie
war nach kurzer Zeit verschwunden.
Kümmern wir uns bescheiden um die Fußnoten, weniger, um die Richtigkeit
des Zitierens zu überprüfen, sondern um das zu belegen, was im Haupttext, der Ent-
wicklung unserer Kultur gesagt, bedacht, bewirkt werden soll. Aus mancher kleinen
Fußnote ist ein großer Gedanke, aus manchem Gedanken eine kulturelle Erneue-
rung entstanden. Unsere Akademie ist bereit, Mut zur Kultur zu beweisen.
 
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