20. Juli 2013
99
WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Die Herren Andreas Meyer-Lindenberg und Albrecht Winnacker halten ihre
Antrittsreden.
HERR KARLHEINZ STIERLE HÄLT EINEN VORTRAG:
„Dantes achter Höllenkreis und das Problem der Sprache“.
Im Aufbau von Dantes Inferno kommt dem 8. Höllenkreis eine besondere Bedeutung
zu. Von den 34 Gesängen des Inferno, dem ersten Teil der Commedia, gelten genau
17 Gesänge, also die Hälfte, dem 8. und dem eng mit ihm verbundenen 9. und
letzten Höllenkreis. Die Frage nach dem Grund dieser durch keine theologische Vor-
stellung motivierten Asymmetrie, die dem 8. Höllenkreis im Ganzen der Commedia
eine herausragende Sonderstellung zuweist, fuhrt in die Mitte von Dantes Sprach-
spekulation, die an der Commedia wesentlichen Anteil hat und die im 8. Höllenkreis
wie an keiner anderen Stelle der Commedia offenkundig wird. Der 8. Höllenkreis
ist der eigentliche Schlüssel zu Dantes Sprachauffassung.
Alle Verdammten des achten und neunten Höllenkreises haben eines gemein-
sam: sie haben sich der Trugrede schuldig gemacht und sich damit in den Augen
Dantes am Geist der Sprache selbst vergangen. In der Vielfalt ihrer Erscheinungen,
denen Dante den größten Teil seines Inferno widmet, wird die gefährliche Macht
einer in falsche Richtung abgelenkten Sprache vor Augen geführt. Die Vielfalt der
Trugreden erweist die unendliche Plastizität und Erscheinungsvielfalt der Trugrede
selbst. Die Trugrede ist Ausdruck einer Sprache, die eine falsche Seinsrichtung
genommen hat. Ihre Urszene ist Dante tief vertraut, es ist die Erzählung der Gene-
sis von der Schöpfung des ersten Menschen und der Macht, die die Trugrede über
ihn gewann.
Die Strafe der Schlange in der Urszene der Trugrede ist ihre Entwürdigung.
Dem entspricht, dass auch die Trugrede im 8. Höllenkreis in all ihren Erscheinungen
die Strafe der Entwürdigung erfahrt. Wer sich der Trugrede verschreibt, entwürdigt
sich selbst und er entwürdigt zugleich die Sprache durch ihre negative Instrumenta-
lisierung. Dies ist die Einsicht, die Kant in seinem Aufsatz „Uber ein vermeintliches
Recht aus Menschenliebe zu lügen“ begründet. Der achte Höllenkreis ist eine Hölle
der Entwürdigung. In allen anderen Höllenkreisen werden die Verdammten hart
bestraft, aber nicht entwürdigt. Dagegen ist die Entwürdigung im 8. und 9. Höllen-
kreis die Strafe selbst. Hier büßen jene, die durch ihre Trugrede die Sprache ent-
würdigt haben. Indem sie die Sprache entwürdigten, haben sie zugleich sich selbst
entwürdigt. Darum ist Entwürdigung ihre ewige Strafe.
Dante liebt kompositorische Effekte. Wie achter und neunter Höllenkreis
gemeinsam genau die Hälfte der 34 Gesänge des Inferno umfassen, so steht genau in
der Mitte dieser 17 Gesänge, als 9. Gesang, dem acht vorausgehen und 8 folgen, der
26. Gesang, der über die Welt der Trugrede hinausfuhrt. Hier begegnet Dante und
Vergil im 8. Ubelgraben des 8. Höllenkreises Odysseus, der dort zusammen mit
Diomedes, dem Gefährten seiner Untaten vor Troja, in eine Doppelflamme gebannt
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WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Die Herren Andreas Meyer-Lindenberg und Albrecht Winnacker halten ihre
Antrittsreden.
HERR KARLHEINZ STIERLE HÄLT EINEN VORTRAG:
„Dantes achter Höllenkreis und das Problem der Sprache“.
Im Aufbau von Dantes Inferno kommt dem 8. Höllenkreis eine besondere Bedeutung
zu. Von den 34 Gesängen des Inferno, dem ersten Teil der Commedia, gelten genau
17 Gesänge, also die Hälfte, dem 8. und dem eng mit ihm verbundenen 9. und
letzten Höllenkreis. Die Frage nach dem Grund dieser durch keine theologische Vor-
stellung motivierten Asymmetrie, die dem 8. Höllenkreis im Ganzen der Commedia
eine herausragende Sonderstellung zuweist, fuhrt in die Mitte von Dantes Sprach-
spekulation, die an der Commedia wesentlichen Anteil hat und die im 8. Höllenkreis
wie an keiner anderen Stelle der Commedia offenkundig wird. Der 8. Höllenkreis
ist der eigentliche Schlüssel zu Dantes Sprachauffassung.
Alle Verdammten des achten und neunten Höllenkreises haben eines gemein-
sam: sie haben sich der Trugrede schuldig gemacht und sich damit in den Augen
Dantes am Geist der Sprache selbst vergangen. In der Vielfalt ihrer Erscheinungen,
denen Dante den größten Teil seines Inferno widmet, wird die gefährliche Macht
einer in falsche Richtung abgelenkten Sprache vor Augen geführt. Die Vielfalt der
Trugreden erweist die unendliche Plastizität und Erscheinungsvielfalt der Trugrede
selbst. Die Trugrede ist Ausdruck einer Sprache, die eine falsche Seinsrichtung
genommen hat. Ihre Urszene ist Dante tief vertraut, es ist die Erzählung der Gene-
sis von der Schöpfung des ersten Menschen und der Macht, die die Trugrede über
ihn gewann.
Die Strafe der Schlange in der Urszene der Trugrede ist ihre Entwürdigung.
Dem entspricht, dass auch die Trugrede im 8. Höllenkreis in all ihren Erscheinungen
die Strafe der Entwürdigung erfahrt. Wer sich der Trugrede verschreibt, entwürdigt
sich selbst und er entwürdigt zugleich die Sprache durch ihre negative Instrumenta-
lisierung. Dies ist die Einsicht, die Kant in seinem Aufsatz „Uber ein vermeintliches
Recht aus Menschenliebe zu lügen“ begründet. Der achte Höllenkreis ist eine Hölle
der Entwürdigung. In allen anderen Höllenkreisen werden die Verdammten hart
bestraft, aber nicht entwürdigt. Dagegen ist die Entwürdigung im 8. und 9. Höllen-
kreis die Strafe selbst. Hier büßen jene, die durch ihre Trugrede die Sprache ent-
würdigt haben. Indem sie die Sprache entwürdigten, haben sie zugleich sich selbst
entwürdigt. Darum ist Entwürdigung ihre ewige Strafe.
Dante liebt kompositorische Effekte. Wie achter und neunter Höllenkreis
gemeinsam genau die Hälfte der 34 Gesänge des Inferno umfassen, so steht genau in
der Mitte dieser 17 Gesänge, als 9. Gesang, dem acht vorausgehen und 8 folgen, der
26. Gesang, der über die Welt der Trugrede hinausfuhrt. Hier begegnet Dante und
Vergil im 8. Ubelgraben des 8. Höllenkreises Odysseus, der dort zusammen mit
Diomedes, dem Gefährten seiner Untaten vor Troja, in eine Doppelflamme gebannt