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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Öffentliche Gesamtsitzung an der Universität Ulm am 14. Dezember 2013
DOI Artikel:
Schockenhoff, Eberhard: Ethik in der modernen Medizin: Was heißt Sterben in Würde?
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0105
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128 | SITZUNGEN

sehen und die Befürchtungen, die mit der anonymen und technischen Kehrseite der
modernen Medizin Zusammenhängen, müssen zweifellos ernst genommen werden.
Doch darf die Gesellschaft sich die Antwort darauf nicht zu leicht machen. Die
rechtliche Zulassung der Tötung auf Verlangen oder der ärztlichen Suizidbeihilfe
wären ein Signal, das in die falsche Richtung weist. Sie verwandeln den Tod in ein
künstliches Ereignis, das kranken Menschen, die keine Aussicht auf Heilung mehr
haben, einen geräuschlosen Abschied aus der Mitte der Lebenden ermöglichen soll.
Dahinter steht ein Menschenbild, das einseitig an den Idealen von Unabhängigkeit,
Leistungsfähigkeit und Gesundheit orientiert ist. Die Gegenwart der kranken, lei-
denden und sterbenden Menschen wird in dieser Perspektive ausschließlich als eine
Belastung wahrgenommen, der man sich entziehen möchte. Man sieht in dem
Schwerkranken nicht mehr den leidenden Menschen, dem wir bis zuletzt vorbe-
haltlos Annahme, Liebe und Hilfe schulden, sondern nur einen medizinischen
Zustand, der aussichtslos geworden ist und deshalb durch menschliches Eingreifen
beendet werden soll.
Die Halbierung des Lebens, die seinen dunklen Seiten aus dem Weg geht, setzt
Schwerkranke und Sterbende dem Zwang zur Rechtfertigung ihres Daseins aus. Das
verstößt gegen das Grundprinzip einer wahrhaft menschlichen (und demokrati-
schen) Gesellschaft, die durch ihre Rechtsordnung allen Mitgliedern — auch den
Schwachen, Kranken und der Hilfe Bedürftigen — die Gewissheit vermitteln muss,
vorbehaltlos angenommen zu sein. Der Grundsatz der Unverfügbarkeit des Lebens
schützt das Leben in jeder Phase und in jeder Form; wer am Lebensanfang oder
Lebensende bestimmte Zustände davon ausnimmt, maßt sich ein Urteil an, das in
einer demokratischen Gesellschaft niemandem zusteht. Der Gedanke wechselseitiger
Anerkennung, der einer demokratischen Rechtskultur zugrunde liegt, fordert viel-
mehr, dass wir jedem Menschen in einer Haltung der Annahme und des Respekts
begegnen, dem Gesunden ebenso wie dem Kranken, dem Genesenden ebenso wie
dem Sterbenden.
Aufgabe einer verantwortlichen Hilfe im Sterben kann es daher immer nur
sein, dem Sterbenden die letzte Wegstrecke seines Lebens zu erleichtern. Gerade in
der letzten Phase des Sterbens ist die Erfahrung eines eigenen Lebenssinnes nur
möglich, wenn sie von der Solidarität und Nähe anderer Menschen mitgetragen
wird. Daher erfordert ein menschenwürdiges Sterben mehr als den bloßen Respekt
vor einer angeblich unbeeinflussten Selbstbestimmung des Sterbenden. Menschen-
würdiges Sterben ist überhaupt nur unter der Bedingung möglich, dass personale
Beziehungen und das Angebot menschlicher Nähe aufrechterhalten werden. Solida-
rität mit Sterbenden besteht nicht darin, ihnen einen Weg zu weisen, wie sie sich bei-
zeiten aus dem Leben verabschieden können, bevor sie anderen zur Last werden.
Wirkliche Hilfe, die der Herausforderung des Sterbens nicht ausweicht, erfordert
vielmehr die Bereitschaft zum Dabeibleiben, zum geduldigen Ausharren und zum
gemeinsamen Warten auf den Tod. Im Ertragen dieser Ohnmacht zeigen sich eine
tiefere menschliche Solidarität und eine entschiedenere Achtung vor der Würde des
sterbenden Menschen als in dem Ausweg einer willentlichen Herbeiführung des
Todes durch andere oder den Sterbenden selbst.
 
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