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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Veranstaltungen
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Mitarbeitervortragsreihe. „Wir forschen. Für Sie“
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Welter, Rüdiger: All You Need Is Love: sagt Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0117
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VERANSTALTUNGEN

Hass entgegen, gerade so, wie zwischen den Naturkörpern ‘Attraktion’ und ‘Repul-
sion’ herrschen, gleichsam magnetische Anziehung und Abstoßung. Dass in dieser
binär-antagonistischen Weltformel nicht etwa der Hass das Übergewicht gewinnt,
bewirkt die Liebe Gottes, die der Mensch seinerseits durch Glaube, Liebe, Hoffnung
beantwortet. Im ‘Faust’ darf man wohl auch das leidenschaftlich-unbedingte
Erkenntnisstreben als Form der Liebe (und der Hoffnung) auffassen, weshalb ‘Erlö-
sung’ für den neuzeitlichen Menschen immer noch möglich ist und Mephisto, wenn
Sie so wollen als ein sympathischerer Vertreter der Hassfraktion, seine (im ‘Prolog’
geschlossene) Wette mit Gott am Ende verliert. Sogar die rationalistische Selbster-
mächtigung des modernen Zweiflers und rastlosen Tatmenschen, seine Verführbar-
keit durch die materiellen Herrlichkeiten der Welt, bleiben von der himmlischen
Liebe umschlossen. Säkularisation und Aufklärung markieren mithin nicht per se die
Aufkündigung des Bundes zwischen Gott und den Menschen, auch und gerade
davon handelt Goethes ‘Faust’. — Das lassen wir alles mal hier so stehen, schließlich
war Goethe weder Systemdenker noch Geschichts- oder Religionsphilosoph. Er
greift Einflüsse von Rationalismus einerseits und Mystik andererseits auf und macht
ein Eigenes daraus: Einerseits bezeichnet er die paulinische Trias von Glaube, Liebe,
Hoffnung als „Vernunft in actu“, als Einsicht in die conditio humana und Garantin
gelingenden Lebens und Zusammenlebens, auf der anderen Seite sieht er in der aus
den christlichen Tugenden resultierenden Geduld auch das gleichmütige Erdulden im
islamischen Sinne, das vertrauensvolle Sich-Fügen ins Unvermeidliche, Gottgewoll-
te — war er am Ende gar mehr Moslem als Christ?
Goethe, der mit Trinitäts- und Kreuzestheologie wenig anzufangen wusste,
hatte bekanntlich eine Schwäche für die einfachen Wahrheiten des Islam. Besonders
angetan war er von der mystischen Liebe zu Gott und der Schönheit seiner Schöp-
fung bei den persischen Dichtern — Hafis als bekanntestem — und in der Spiritualität
der Sufis. In diesen Strömungen des Islam schließen sich Frömmigkeit und Sinn-
lichkeit nicht aus, und das ist für Goethe, dessen so genannte „Weltfrömmigkeit“
immer zu allem einen sinnlich-anschaulichen Zugang sucht, Einladung genug. Vor
diesem Hintergrund preist er auch die Lehrgedichte des Rumi, dessen Mausoleum
in Konya noch heute eine viel besuchte moslemische Wallfahrtsstätte ist. Rumi, mit
vollem Namen Dschalal-ad Din Muhammed Rumi, lehrt, dass die Liebe die Haupt-
kraft des Universums ist. Das Universum als harmonisches Ganzes ist durch wech-
selseitige Liebe seiner Elemente konstituiert und so ein Korrelat der Liebe Gottes,
der es sein Sein verdankt. Diese kosmische Liebe verbindet Goethes Spiritualität mit
der paulinischen Liebesbotschaft, dem einzigen Stück Christentum, das er sicli voll
und ganz zu eigen gemacht hat. Ansonsten hielt er sich, wenn überhaupt, an den
Seniorchef. Im Grunde jedoch braucht seine Weise der Frömmigkeit, die er als
„natürliche Religion“ apostrophiert, nicht den Glauben an einen personalen Gott,
denn eine höhere, eine göttliche Wesenheit zeigt sich ihm in der Natur — die er mit
allen Sinnen liebt.
Goethe also macht sich von allem Christentum doch immerhin die paulinische
Liebesbotschaft zu eigen, und zwar, indem er sie ein Stück weit entchristianisiert.
Explizit christliche oder zumindest so klingende Äußerungen über die Liebe Gott-
 
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