3. Juli 2013 | 147
Melanchthons „dunkler Winkel“ ist von der historischen Forschung mittlerweile
schon kräftig ausgeleuchtet worden. Im Fokus der Aufmerksamkeit stand dabei sein
ausgeprägtes Interesse für Astrologie, das zwar zeittypisch, für einen häufig als ratio-
nalistisch geltenden Reformator aber in seiner Intensität doch ungewöhnlich ist.
Daneben rückten weitere divinatorische Praktiken in den Lichtkegel: Melanchthons
intensives, gut dokumentiertes und vielfältig ausgedeutetes Traumleben, seine Emp-
fänglichkeit für Ahnungen und Vorzeichen sowie der Spleen, seinen Freunden das
Schicksal aus der Hand zu lesen.5
Astrologie, Traum- und Prodigiendeutung sowie die ebenfalls bereits in der
Antike praktizierte Chiromantie zielen darauf ab, einen fragenden Blick in die
Zukunft zu werfen. Diese Zukunft erschien im Zeitalter der Reformation aufgrund
der Kirchenspaltung sowie der zahlreichen Kriege, Seuchen und sozialen Verwerfun-
gen besonders bedroht und ungewiss. In einem von Zukunftsangst geprägten Klima
konnte sich die Astrologie zu einer regelrechten „Superwissenschaft“ entwickeln, die
im Verbund mit der Astronomie auch im Fächerkanon der damaligen Artistenfakul-
täten verankert war.Trotz häufiger Scharlatanerie und zahlloser offenkundig verfehl-
ter Vorhersagen stand die prophetische Kunst der „astrologia divinatrix“ bei vielen
Zeitgenossen in hohem Ansehen. Das Renommee der damaligen Astrologen lässt
sich am ehesten mit demjenigen der modernen Wirtschaftswissenschaftler verglei-
chen: Deren Prognosen erscheinen nicht viel zutreffender als die Voraussagen der
Hofastrologen des 16. Jahrhunderts, und dennoch werden diese modernen Ökono-
men oder „Wirtschaftsweisen“ seitens der Regierenden bis heute nicht weniger
hofiert als damals ihre frühneuzeitlichen Brüder im Geiste.6
Wenn man sich näher mit Melanchthons Briefwechsel beschäftigt, fällt einem
sehr schnell auf, dass der Wittenberger Professor ein ungemein lebhafter Träumer war
und viel und oft von seinen Träumen berichtete. Als Camerarius ihn im Dezember
1540 während des Wormser Religionsgespräches besuchte und damals einen Traum
über den Kaiser hatte, in dem auch ihr gemeinsamer Freund Paul Eber vorkam,
berichtete Melanchthon diesem brieflich davon.7 Dabei nahm er auf ein Gedicht des
hellenistischen Dichters Theokrit Bezug, in welchem zwei arme alte Fischer über
ihre Träume sprechen. Auf die Bemerkung des einen: „Hast du mal gelernt, Traumbil-
5 Vgl. etwa Jürgen G. H. Hoppmann: Astrologie der Reformationszeit. Faust, Luther, Melanchthon
und die Sternendeuterei, mit einem Vorwort von Günther Mahal, Berlin 1998; Wolf-Dieter
Müller-Jahnke: „Paganer“ Protestantismus? Astrologie und Mantik bei den Reformatoren, in:
Caspar Peucer (1525—1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, hrsg.
von Hans-Peter Hasse/Günther Wartenberg, Leipzig 2004, S. 75—90; Claudia Brosseder: Im Bann
der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen, Berlin
2004; Anthony Grafton: Reforming the Dream, in: Humanism and Creativity in the Renaissance.
Essays in Honor of Ronald G. Witt, hrsg. von Christopher S. Celenza/Kenneth Gouwens,
Leiden/Boston 2006, S. 271-292.
6 Vgl. Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen,
Berlin 1999, S. 23-25.
7 Siehe Melanchthons Briefwechsel (MBW), Bd. T 9: Texte 2336—2604 (1540), hrsg. von Heinz
Scheible, bearb. von Christine Mundhenk u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, Nr. 2584.5.
Melanchthons „dunkler Winkel“ ist von der historischen Forschung mittlerweile
schon kräftig ausgeleuchtet worden. Im Fokus der Aufmerksamkeit stand dabei sein
ausgeprägtes Interesse für Astrologie, das zwar zeittypisch, für einen häufig als ratio-
nalistisch geltenden Reformator aber in seiner Intensität doch ungewöhnlich ist.
Daneben rückten weitere divinatorische Praktiken in den Lichtkegel: Melanchthons
intensives, gut dokumentiertes und vielfältig ausgedeutetes Traumleben, seine Emp-
fänglichkeit für Ahnungen und Vorzeichen sowie der Spleen, seinen Freunden das
Schicksal aus der Hand zu lesen.5
Astrologie, Traum- und Prodigiendeutung sowie die ebenfalls bereits in der
Antike praktizierte Chiromantie zielen darauf ab, einen fragenden Blick in die
Zukunft zu werfen. Diese Zukunft erschien im Zeitalter der Reformation aufgrund
der Kirchenspaltung sowie der zahlreichen Kriege, Seuchen und sozialen Verwerfun-
gen besonders bedroht und ungewiss. In einem von Zukunftsangst geprägten Klima
konnte sich die Astrologie zu einer regelrechten „Superwissenschaft“ entwickeln, die
im Verbund mit der Astronomie auch im Fächerkanon der damaligen Artistenfakul-
täten verankert war.Trotz häufiger Scharlatanerie und zahlloser offenkundig verfehl-
ter Vorhersagen stand die prophetische Kunst der „astrologia divinatrix“ bei vielen
Zeitgenossen in hohem Ansehen. Das Renommee der damaligen Astrologen lässt
sich am ehesten mit demjenigen der modernen Wirtschaftswissenschaftler verglei-
chen: Deren Prognosen erscheinen nicht viel zutreffender als die Voraussagen der
Hofastrologen des 16. Jahrhunderts, und dennoch werden diese modernen Ökono-
men oder „Wirtschaftsweisen“ seitens der Regierenden bis heute nicht weniger
hofiert als damals ihre frühneuzeitlichen Brüder im Geiste.6
Wenn man sich näher mit Melanchthons Briefwechsel beschäftigt, fällt einem
sehr schnell auf, dass der Wittenberger Professor ein ungemein lebhafter Träumer war
und viel und oft von seinen Träumen berichtete. Als Camerarius ihn im Dezember
1540 während des Wormser Religionsgespräches besuchte und damals einen Traum
über den Kaiser hatte, in dem auch ihr gemeinsamer Freund Paul Eber vorkam,
berichtete Melanchthon diesem brieflich davon.7 Dabei nahm er auf ein Gedicht des
hellenistischen Dichters Theokrit Bezug, in welchem zwei arme alte Fischer über
ihre Träume sprechen. Auf die Bemerkung des einen: „Hast du mal gelernt, Traumbil-
5 Vgl. etwa Jürgen G. H. Hoppmann: Astrologie der Reformationszeit. Faust, Luther, Melanchthon
und die Sternendeuterei, mit einem Vorwort von Günther Mahal, Berlin 1998; Wolf-Dieter
Müller-Jahnke: „Paganer“ Protestantismus? Astrologie und Mantik bei den Reformatoren, in:
Caspar Peucer (1525—1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, hrsg.
von Hans-Peter Hasse/Günther Wartenberg, Leipzig 2004, S. 75—90; Claudia Brosseder: Im Bann
der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen, Berlin
2004; Anthony Grafton: Reforming the Dream, in: Humanism and Creativity in the Renaissance.
Essays in Honor of Ronald G. Witt, hrsg. von Christopher S. Celenza/Kenneth Gouwens,
Leiden/Boston 2006, S. 271-292.
6 Vgl. Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen,
Berlin 1999, S. 23-25.
7 Siehe Melanchthons Briefwechsel (MBW), Bd. T 9: Texte 2336—2604 (1540), hrsg. von Heinz
Scheible, bearb. von Christine Mundhenk u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 2008, Nr. 2584.5.