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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Kirchhof, Paul: Festrede von Paul Kirchhof: „Der Auftrag einer Akademie in Zeiten kulturellen Umbruchs“
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0031
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54

JAHRESFEIER

die Subventionen nicht in eine kunstferne Szene abwandern können. Der Definie-
rende weiß, dass er heute etwas begreift, was morgen überprüft werden muss. Spre-
chen ist stets ein Prozess der Erneuerung.
Heute erfasst der überwiegende Teil der Wissenschaft die Welt in der Präzision
der Zahl, der Messbarkeit. Doch auch bei dieser Analyse der Wirklichkeit erfahren
wir, dass die Zahl oft mehr verbirgt als offenbart. Wenn wir das ökonomische und
das politische Handeln weitgehend aufWachstum ausrichten, dabei dieses Wachstum
lediglich formal an dem Zuwachs messen, den der inländische Produzent in einem
Jahr erbringt, so kann diese Wachstumsrate, die prozentuale Veränderung der Wirt-
schaftsleistungen innerhalb eines Zeitraums, uns auch täuschen und enttäuschen.
Fahren Kraftfahrer bei der Wochenendfahrt in einen Stau, brauchen sie mehr Kraft-
stoff, steigern also das formale Wachstum. Mehrt eine Seuche den Krankheitsstand
und die Umsätze am Medizinmarkt, mag ein formaler Beobachter von Wertschöp-
fung sprechen, verfehlt damit aber die Realität; Krankheit mindert Lebensqualität.
Und wenn ich Bilanzen lese, habe ich noch nie erlebt, dass dort alle Wirklichkeit nur
gezählt und nicht auch in Zahlen gedeutet würde. Für den Kapitalmarkt und die
Vorstandsbezüge wird das Unternehmen glänzend dargestellt, für das Finanzamt
erbärmlich.
Deswegen brauchen wir einen Ort, wo in Distanz zu herkömmlichen Wissen-
schaftsmethoden, in Unabhängigkeit von Interessentendefinitionen darüber gespro-
chen wird, wie wir die Welt erfassen wollen.
Erlauben Sie mir, das wissenschaftliche Anliegen zum Begreifen dieser Welt in
drei zugespitzten Fragen anzudeuten, deren Einfachheit den gemeinten Gedanken in
gewollter Leichtigkeit und Unbeschwertheit ausdrückt.
— Wie wäre es, wenn statt des DAX, der täglich als Fußzeile durch die Fernsehsen-
dungen läuft, einmal in der Woche eine Münze gezeigt würde, die wir in einem
unserer Forschungsfelder gefunden haben und für die der Forscher erklärt, warum
sie in ihrem Nutzwert zwar wertlos, nach ihrer Herkunft und ihrer kulturellen
Bedeutung aber Vertrauen genießt und deshalb wertvoll, ein Zahlungsmittel ist?
— Wie wäre es, wenn nach dem Wetterbericht über die Strömungen der Hoch-
drucklagen ein Bericht über die Kulturströmungen in Europa folgte, auf die
Deutschland und Europa — erwartungsvoll oder skeptisch - sich einzustellen
haben?
— Wie wäre es, wenn die Tageszeitungen statt des täglichen Börsenberichts aus
Frankfurt einmal in der Woche Texte von Seneca, Von der Gelassenheit, abdrucken
würde, wie sie Bernhard Zimmermann für unsere Gegenwart neu erschlossen hat:
„Nichts ist so bitter, dass ein gefasstes Herz keinen Trost fände“?
Viele kleine Kulturerlebnisse bewirken Großes.
IV Erfahren und Ergründen im Dialog der Klassen
Wir versuchen, die Wirklichkeit ernsthaft und planmäßig zu ermitteln, fragen in
der Rationalität von Ursache und Wirkung, von Versuch und Irrtum, von Wieder-
legung und Bestätigung einer Erwartung nach beweisbaren Ergebnissen, die sich —
 
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