70 | SITZUNGEN
kein rares Gut mehr ist, die Spekulation fast ins Grenzenlose steigt. Die Verbindlich-
keit des Rechts scheint durch die Gesetzmäßigkeiten des Geldmarktes — oder rea-
listischer: durch die Mächtigkeiten der dort handelnden Akteure — verdrängt zu
werden. Die Gewinnmaximierung neigt zur Maßstablosigkeit und damit tendenziell
zur Maßlosigkeit.
I. Der „Raum des Rechts“ und das Streben nach Gewinn
Die Europäische Union beansprucht, ein „Raum des Rechts“ zu sein. Nicht Men-
schen, Wirtschaftsunternehmen oder Interessenverbände herrschen, sondern das von
den Bürgern demokratisch legitimierte Recht. Dieses Recht bestimmt den Men-
schen nach grundsätzlich anderen Strukturen als das Geld. Recht bewahrt vertraute
Regel des Gemeinschaftslebens, schützt den Einzelnen in seiner Freiheit und seinem
Eigentum, sichert soziale Zugehörigkeit und Teilhabe, ermächtigt den Einzelnen, die
Gesellschaft und den Staat zu zukunftsgerichtetem Handeln. Recht lebt sprachlich
aus seiner Herkunft, sucht die demokratische Übereinkunft, definiert den verbind-
lichen Rahmen der Zukunft. Geld verleugnet seine Herkunft und verschweigt seine
Zukunft. Ob ein 10-Euroschein durch Arbeit erworben, an der Börse leichter Hand
mitgenommen, durch Betteln empfangen oder durch Banküberfall erbeutet worden
ist, sieht man dem Schein nicht an. Ob mit dem Geld später einmal ein Apfel zum
Essen, eineVioline zum Spielen oder eine Pistole zum Bedrohen erworben wird, lässt
das Geld als Passepartout für ökonomisches Handeln offen.
Recht spricht den Menschen in der Rationalität des Sprachlichen an. Geld
nimmt sich in die Abstraktion der Zahl zurück, die Grundkategorien des Gemein-
schaftslebens wie Freiheit, Verantwortung, Haftung, Sicherheit nicht ausdrücken
kann, die Ordnungsprinzipien wie Gewaltenteilung, Zuständigkeit, Wahl, Rechen-
schaft und Verfahren nicht zu vermitteln vermag.
Recht formt klare Entscheidungsalternativen: Ein Gesetz ist verfassungsgemäß
oder verfassungswidrig, ein Arzneimittel geeignet oder ungeeignet, ein Bewerber
qualifiziert oder unqualifiziert. Entscheidungen über Geldleistungen kennen so viele
Kompromisse, als eine Summe in Euro teilbar ist.
Geld ist geprägte Freiheit, befähigt in seiner Abstraktheit und Bestimmungslo-
sigkeit zu fast beliebigem Handeln. Ihm fehlt aber die Qualität des Freiheitsrechts,
eines definierten, auf den anderen und die Rechtsgemeinschaft abgestimmten Dür-
fens. Das Recht hat die Aufgabe, auch dem Geldmarkt ein Maß und ein Ziel zu
geben.
In dieser rechtlich verarmten, vom Erwerbsstreben getriebenen Welt trifft die
EU auf einen Markt, der in wachsender Geschwindigkeit auf eine Wendemarke
zusteuert. Herrscher sind die Financiers, weil die Waren immer mehr von Compu-
tern und Robotern produziert, der Gewinn dementsprechend den Kapitalgebern
zugesprochen und die Ertragsquelle der Arbeitskraft verdrängt wird. Die Ertrags-
chancen für Investoren und Sparer brechen auseinander, wenn der Finanzierungs-
markt wachsende Renditen verspricht, der Realzins für das Sparkapital aber unter
die Inflationsrate sinkt, Spareigentum also keine Ertragsquelle mehr bietet.
kein rares Gut mehr ist, die Spekulation fast ins Grenzenlose steigt. Die Verbindlich-
keit des Rechts scheint durch die Gesetzmäßigkeiten des Geldmarktes — oder rea-
listischer: durch die Mächtigkeiten der dort handelnden Akteure — verdrängt zu
werden. Die Gewinnmaximierung neigt zur Maßstablosigkeit und damit tendenziell
zur Maßlosigkeit.
I. Der „Raum des Rechts“ und das Streben nach Gewinn
Die Europäische Union beansprucht, ein „Raum des Rechts“ zu sein. Nicht Men-
schen, Wirtschaftsunternehmen oder Interessenverbände herrschen, sondern das von
den Bürgern demokratisch legitimierte Recht. Dieses Recht bestimmt den Men-
schen nach grundsätzlich anderen Strukturen als das Geld. Recht bewahrt vertraute
Regel des Gemeinschaftslebens, schützt den Einzelnen in seiner Freiheit und seinem
Eigentum, sichert soziale Zugehörigkeit und Teilhabe, ermächtigt den Einzelnen, die
Gesellschaft und den Staat zu zukunftsgerichtetem Handeln. Recht lebt sprachlich
aus seiner Herkunft, sucht die demokratische Übereinkunft, definiert den verbind-
lichen Rahmen der Zukunft. Geld verleugnet seine Herkunft und verschweigt seine
Zukunft. Ob ein 10-Euroschein durch Arbeit erworben, an der Börse leichter Hand
mitgenommen, durch Betteln empfangen oder durch Banküberfall erbeutet worden
ist, sieht man dem Schein nicht an. Ob mit dem Geld später einmal ein Apfel zum
Essen, eineVioline zum Spielen oder eine Pistole zum Bedrohen erworben wird, lässt
das Geld als Passepartout für ökonomisches Handeln offen.
Recht spricht den Menschen in der Rationalität des Sprachlichen an. Geld
nimmt sich in die Abstraktion der Zahl zurück, die Grundkategorien des Gemein-
schaftslebens wie Freiheit, Verantwortung, Haftung, Sicherheit nicht ausdrücken
kann, die Ordnungsprinzipien wie Gewaltenteilung, Zuständigkeit, Wahl, Rechen-
schaft und Verfahren nicht zu vermitteln vermag.
Recht formt klare Entscheidungsalternativen: Ein Gesetz ist verfassungsgemäß
oder verfassungswidrig, ein Arzneimittel geeignet oder ungeeignet, ein Bewerber
qualifiziert oder unqualifiziert. Entscheidungen über Geldleistungen kennen so viele
Kompromisse, als eine Summe in Euro teilbar ist.
Geld ist geprägte Freiheit, befähigt in seiner Abstraktheit und Bestimmungslo-
sigkeit zu fast beliebigem Handeln. Ihm fehlt aber die Qualität des Freiheitsrechts,
eines definierten, auf den anderen und die Rechtsgemeinschaft abgestimmten Dür-
fens. Das Recht hat die Aufgabe, auch dem Geldmarkt ein Maß und ein Ziel zu
geben.
In dieser rechtlich verarmten, vom Erwerbsstreben getriebenen Welt trifft die
EU auf einen Markt, der in wachsender Geschwindigkeit auf eine Wendemarke
zusteuert. Herrscher sind die Financiers, weil die Waren immer mehr von Compu-
tern und Robotern produziert, der Gewinn dementsprechend den Kapitalgebern
zugesprochen und die Ertragsquelle der Arbeitskraft verdrängt wird. Die Ertrags-
chancen für Investoren und Sparer brechen auseinander, wenn der Finanzierungs-
markt wachsende Renditen verspricht, der Realzins für das Sparkapital aber unter
die Inflationsrate sinkt, Spareigentum also keine Ertragsquelle mehr bietet.