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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2013 — 2014

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I. Das akademische Jahr 2013
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Antrittsreden
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Gerok-Reiter, Annette: Antrittsrede von Frau Annette Gerok-Reiter an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 26. Oktober 2013
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https://doi.org/10.11588/diglit.55655#0165
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ANTRITTSREDEN

worauf eine solche Faszinationskraft beruhe und ob es logisch explizierbare Antwor-
ten hierfür gebe.
In Tübingen traf ich neben so verschiedenen Lehrern wie Walter Jens oder
Jochen Schmidt auch auf jenen eindrucksvollen „Dichter des Lesens“, wie ihn Cees
Noteboom genannt hat, Paul Hoffmann, der wenig publiziert, aber weithin gewirkt
hat in seiner Fähigkeit, die Sprache des Kunstwerks bis in seine leisesten Töne abzu-
tasten. „Die Sprache kommt in ihr eigenes Leuchten“, das war in den Worten Paul
Hoffmanns das höchste Lob für ein vergangenes oder auch zeitgenössisches sprach-
liches Kunstwerk. Und dann begann die Arbeit: Wie konnte das Funktionieren der
Komposition, der soziale Ort des Textes, die Spurenelemente der eingeschriebenen
Geschichte erklärt werden, ohne dass dabei das Leuchten aus dem Blick geriet —
interpretatorische Balanceakte der Hohen Schule. Als Paul Hoffmann schon längst
emeritiert war, verfasste ich bei ihm meine Dissertation zum Thema „Komposition
und Poetik in Rilkes ‘Sonette an Orpheus’, deren Unterkapitel — „Die Struktur des
Zyklus“, „Die Sprache der Form“, „Die Poesie der Grammatik“ usw. - den struktu-
ralistischen Ansatz zeigen.
Kurz darauf wechselte ich in die Mediävistik - mit gutem Grund und doch für
mich selbst überraschenden Wendungen: Das Studium der Germanistik verlangte im
Magisterstudiengang eine doppelte Schwerpunktbildung. Ausgehend von meinen
Leistungskursen, Deutsch und Mathematik, hatte ich den Schluss gezogen, dass der
optimale Schnittpunkt beider Fächer Linguistik sein müsse. Die Schlussfolgerung
mochte theoretisch richtig sein, die praktische Konstellation, auf die ich traf, bestätigte
sie nicht. Umgekehrt erging es mir mit der Mediävistik. Trotz schwäbisch-berliner
Gemengelage war ich ohne schwäbische Diphthonge oder Berlinerisches ik, appel
und dat aufgewachsen. So konnte ich mich in mediävistischen Seminare, in denen
die mir vertraute Sprache irgendwie aus den Lautfugen zu geraten schien, nur fremd
im eigenen Haus fühlen. Einzigartig war dagegen die Konstellation der Tübinger
Mediävistik, die sich bot: Die Kooperation von Burghart Wachinger und Walter
Haug. Ein Glücksfall: Setzte der eine in der Gewichtung bei den philologischen
Details, den Nuancen des Wortes, der Vorliebe für die Lyrik an, so der andere bei den
Strukturen als Schlüssel zur Welt, bei den Logiken der Erzählung, den großen Rech-
nungen: Die Wahrheit der Fiktion. Und dies taten beide nicht im Gegeneinander,
sondern im ergänzenden Zusammenspiel. Da war sie, die Schnittstelle - und zugleich
die gelebte Vision einer Wissenschaft, die fachliche und personale Integrität verband:
mir Vorbild bis heute. Also galt es, das fremde eigene Haus bewohnbar zu machen,
Schritt für Schritt. Als mich Walter Haug dann kurz vor dem Ende meiner Promo-
tion fragte, ob ich nicht bei ihm Mitarbeiterin werden und in der Mediävistik habi-
litieren wolle, sagte ich kurzerhand zu — ich habe den Wechsel in ein anderes wis-
senschaftliches Gelände nie bereut. Letztlich waren die Fragen, mit denen ich
aus der klassischen Moderne kam, ja auch nur umzudrehen: Ein Beispiel: Ging es in
der klassischen Moderne und der Rilke-Forschung vielfach um das Ende des Indi-
viduums, so ließ sich mit der einsetzenden volkssprachigen Literatur um 1200 nach
dem Beginn von Individualisierungsprozessen auch und gerade in erzählender Lite-
ratur fragen. Diese Frage wurde mein Habilitationsthema, eine knifflige Angelegen-
 
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