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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2000 — 2001

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Sitzungen

eben weil es ein wesentliches Element und eine stete Belastung der politischen Ordnung in der
antiken Polis war. Ich habe dies nun gerade auch für diejenigen griechischen Saaten untersucht,
die weniger im Zentrum des Interesses lagen und die in Fachkreisen dem „Dritten Griechen-
land“ zugerechnet werden. Damit hatte ich ein sozusagen pluralistisches Verständnis der grie-
chischen Geschichte gewonnen. Vor allem aber wurde ich dadurch, ohne daß mir das von
vornherein klar war, mit allen Schattenseiten des klassischen Griechentums konfrontiert, ent-
fernte mich weit von „edler Einfalt und stiller Größe“ und stand vor dem, was Nietzsche den
„inwendigen Explosivstoff“ der Griechen genannt hat und ihren „Willen zur Macht“.
In der Arbeit, mit der ich mich 1982 habilitierte und die 1985 veröffentlicht wurde, habe
ich die Phänomene dieser inneren Kriege beschrieben und verschiedene Überlegungen zu
ihrer Deutung angestellt. Aber bald merkte ich, daß ich dabei nicht stehenbleiben konnte.
Wenn man so will, kreisen meine Arbeiten seit jener Zeit immer wieder vornehmlich um
diese Thematik, was natürlich vor allem daran liegt, daß wir mit unserer häufig lamentablen
Quellenlage immer wieder auf Fragen stoßen, die wir nicht beantworten können bzw. zu
deren Beantwortung komplizierte Arbeiten erledigt werden müssen. Jedem leuchtet ein, daß
bei der Frage nach den Ursachen von revolutionären Umschwüngen und Bürgerkriegen auch
wirtschaftliche Diskrepanzen eine Rolle spielen können. Gerade über solche Zustände wis-
sen wir aber kaum Bescheid, vor allem wenn wir uns „jenseits von Athen und Sparta“ bewe-
gen. Hier erwiesen sich historisch-geographische und archäologische, aber auch vegetati-
onsgschichtlich-palynologische Forschungen als wichtig und hilfreich, die Auskunft über
Nutzung und Inwertsetzungspotentiale von Landschaften und Regionen geben. Diese waren
seinerzeit im Bereich der klassischen Mittelmeerkulturen noch relativ dünn gesät, so daß ich
selber, in interdisziplinärer Kooperation, auf diesem Felde tätig geworden bin und in einer
Region Westgriechenlands, wenn man so will, vor der Haustür des Odysseus, entsprechen-
de Untersuchungen angeregt und realisiert habe, mit Feldforschungen in den Jahren von 1991
bis 199Z
Mindestens ebenso wichtig für Prozesse sozialer Unruhe ist aber, neben den strukturellen
Gegebenheiten, auch das, was sich in den Köpfen abspielt. Auch die Mentalitäten, Vorstel-
lungen, Sichtweisen, Codes, die das soziale Verhalten steuern, waren näher in den Blick zu
nehmen. In diesem Rahmen habe ich mich vor allem mit der Reziprozität in den sozialen
Beziehungen beschäftigt, also der Moral der Vergeltung und Erwiderung, insbesondere der
Bedeutung und der Konsequenz der Rache und des Racheethos bei den Griechen. Gerade
dabei handelte es sich um wesentliche Antriebskräfte der in den politisch-sozialen Konflikten
begegnenden Vernichtungsbereitschaft.
Die Beschäftigung mit solchen Gewaltphänomenen hat mich schließlich auch zu einer
neuen Akzentuierung auf dem Gebiet der frühen griechischen Gesetzgebung geführt. Dabei
wirkten sich zugleich kräftige Impulse aus, die ich nach meiner Berufung nach Freiburg durch
den von Wolfgang Raible moderierten SFB „Übergänge und Spannungsfelder zwischen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ erhielt. Ich hatte die Gelegenheit, die Verschriftung sozia-
ler Regeln und damit die Kodifizierung von Gesetzen in der archaischen und frühklassischen
Zeit, also vom 7 bis zum 5. Jahrhundert v. Chr., mit einer kreativen Arbeitsgruppe und im
Milien lebendigen interdisziplinären Gedankenaustausches zu studieren. Überdeutlich wurde
dabei, daß die in vielen griechischen Gemeinschaften vorgenommene Verschriftlichung von
Normen eine Verrechtlichung war, die primär der Regulierung und damit Entschärfung der
tiefen Konflikte und der hohen Konfliktanfälligkeit dienen sollten. Damit aber hat sich die
spezifisch griechische Staatsfonn der Polis als Rechtsordnung und Nomokratie etabliert, mit
weitreichenden Konsequenzen nicht nur für die Antike.
 
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