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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 15. Juni 2002
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Maul, Stefan M.: Die "Befreiung vom Bann" - Überlegungen zu altorientalischen Konzeptionen von "Krankheit" und "Heilung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0071
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82 | SITZUNGEN

symbolischer Akt auch im Alltagsleben eine Eheschließung rechtskräftig besiegelte:
Das Gewand des Figürchens und das des Patienten wurden durch einen Knoten ver-
bunden. Das Urteil der Götter, den Menschen unter einen Bann zu stellen, war
damit nachvollzogen und angenommen. Gleich anschließend wurde die Scheidung
vollzogen, indem der Beschwörer den Knoten der Gewänder durchtrennte. Der
Erkrankte und der ihn bedrängende Bann waren nun endgültig voneinander
getrennt. Nun durchbohrte der Beschwörer das Figürchen und bestattete es mitsamt
dem ihm zugewiesenen Lösegeld und seinerWegzehrung.
Erst jetzt, nachdem die Revision des göttlichen Urteils und die Tilgung des
„Banns“ sichtbar vollzogen waren, konnte im System der babylonischen Heilkunst
eine Behandlung der akuten körperlichen Krankheitssymptome des Patienten wirk-
kräftig werden.
Zahlreiche rational erscheinende Rezepturen, die auch in unserem Sinne
medizinische Therapien zur Heilung der mamitu-Kra.nk.heit darstellen, lassen sich im
Bibliotheksbestand des Kizir-Assur finden. Zur Behandlung der schweren
Abdomidalerkrankung wurden Klistiere eingesetzt, die aus bis zu 26 verschiedenen
zumeist pflanzlichen Bestandteilen gekocht und durch ein Rohr verabreicht wurden.
Zwar kennen wir die Wirkkraft der einzelnen Bestandteile in vielen Fällen noch
nicht genau. Der Umstand, daß in einem Rezept der Zusatz von Bierhefe vorge-
schrieben war, läßt aber als sicher erscheinen, daß mit Hilfe dieser Ingredienz die
geschädigte Darmflora des Erkrankten wiederhergestellt werden sollte. Nach der
mehrmaligen Verabreichung des Klistiers wurde der Kranke mit Kräuterumschlägen,
medizinischen Bädern, Salben und einem auf nüchternen Magen zu verabreichen-
den Trunk von 14 in Bier gegebenen Kräutern kuriert.
Das hier nur in groben Zügen entworfene Bild von der mesopotamischen Heil-
kunst versucht, dem weltbildgebundenen Selbstverständnis einer räumlich und zeit-
lich fernen Kultur in seiner ganzen Fremdheit Rechnung zu tragen. In jedem Falle
zeigt es, daß die komplexen vorwiegend magisch-religiös geprägten FI eilverfahren,
die immer noch allzu oft (offen oder uneingestanden) letztlich für krausen Aberglau-
ben gehalten werden, in Wahrheit von unbestechlicher innerer Logik sind, wenn man
sie an den Weltentwürfen ihrer Zeit zu messen versucht. Man mag zwar, wie der Wis-
senschaftshistoriker Andre Pichot dennoch zu dem Urteil kommen, „daß (in Meso-
potamien) die von der Vernunft geleitete Betrachtung als solche noch nicht als Mög-
lichkeit, Denken und Handeln ... erkannt“ gewesen und „Vernunft noch nicht zum
obersten Wahrheitskriterium erhoben worden ist“. Eine solche Position, die letztlich
nur die eigenen Werte und Kategorien anerkennt, kann freilich der Weitsicht einer
Kultur, die die Existenz und die Wirkmacht transzendenter Kräfte nie in Frage stell-
te, nicht gerecht werden. Uber die zweifelhafte Erkenntnis, daß die ferne alte Kultur
nur wenige erste mehr oder minder unbeholfene Schritte auf einem Weg eingeschla-
gen hat, den die eigene Kultur zielstrebig gegangen ist, wird sie nie hinausführen.
Allzu leichtfertig versperrt sie auch die Einsicht, daß die eher magisch-religiösen
Behandlungsformen wie die hier vorgestellten als psychologisch wirksame Therapien
den Heilerfolg erheblich begünstigt haben dürften. Wohl kaum wären sonst die hier
besprochenen Heilmethoden über zwei Jahrtausende in Gebrauch gewesen.
 
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