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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 30. November 2002
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Mertens, Dieter: Die Anfänge der deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Zeitalter des Humanismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0091
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SITZUNGEN

Die Nationalismusforschung ist in der Phase der Dekonolisation und des nation
building der fünfziger und sechziger Jahre außerordentlich lebhaft gewesen, sie ist es
wiederum seit den neunziger Jahren angesichts des Zerfalls des Sowjetimperiums
und seiner Folgewirkungen. Anders als der seinerzeit (1978) von Heinrich August
Winkler vorgelegte Forschungsbericht hat der neuere von Dieter Langewiesche
(1995) Veranlassung, ausdrücklich auf Forschun gen über die Rolle der Vor moderne
einzugehen; Reinhard Stäuber hat ihnen 1996 einen eigenen Bericht gewidmet. Es
geht einerseits um die grundsätzlichen Differenzen zwischen ethnicists und moder-
nists, führend vertreten durch A. D. Smith bzw. E. Gellner, andererseits um die
Ergebnisse einer regen Nations- und „Nationalismus“-Forschung der Mediävisten
und der Frühneuzeitforscher. Forschung zur Nation der Vormoderne kann nur im
Gegensatz zum historischen Selbstverständnis des modernen Nationalismus sinnvoll
betrieben werden, d. h. unter der Prämisse der modernists von der kategorialen Dif-
ferenz der Moderne. Diese Differenz ist zu betonen sowohl gegen Versuche, die
Zäsur, anstatt sie zu erklären, zugunsten ungebrochener Prozeßhaftigkeit zu relati-
vieren, als auch gegen die Isolierung des vormodernen Nationsdiskurses von kom-
plementären Diskursen und von seiner sozialen und politischen Grundlage und
Funktion. Die isolierte Frage allein nach der Nation in der Vormoderne folgt ledig-
lich dem modernen Verständnis der Nation als Letztwert, und die Geschichte der
Traditionserfindungen verliert ihre Scheinautonomie, indem sie ihre Räson aus
dem bedingenden sozialen und politischen Kontext ihrer Entstehung und Verbrei-
tung gewinnt.
Die Anfänge der deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Zeitalter des
Humanismus datieren um 1500 und reflektieren in historiograpbischer Konkurrenz
zu anderen europäischen Nationalgeschichten einen aktuellen Zustand der politi-
schen und gesellschaftlichen Kohäsion der Deutschen. Mittels der Rezeption der
„Germania“ des Tacitus und der Tacitus-Adaptation des Annius von Viterbo wurde
die Nation der Deutschen insgesamt den (seit dem 19. Jahrhundert als deutsche
„Stämme“ bezeichneten) Völkern (gentes) und ebenfalls dem Römischen Reich
historisch vorgeordnet. Trägerin und Erfinderin dieses neuen Traditionskonzeptes
war die universitär — meist an italienischen oder französischen Rechtsfakultäten -
ausgebildete, professionalisierte und untereinander zusammenhängende Elite bürger-
licher Herkunft, die im Dienst der Reichsstände agierte. Sie definierte über die deut-
sche Nationalgeschichte ihren Aktionsraum und ihr Selbstverständnis. Für die Aus-
formung des Selbstverständnisses seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts war die
Erfahrung nationaler Konkurrenz der Universitätsnationen entscheidendere Kataly-
sator, wie sie in Bologna und Orleans aufgezeigt werden kann, kaum der „Grenz-
landpatriotismus“ elsässischer Humanisten, der zwar vernehmlich vorgetragen
wurde, aber nur den sozialen und politischen Gegensatz zur Schweizer Eidgenos-
senschaft kaschierte. Die Darlegung des relativen Vorrangs der deutschen Gemein-
samkeiten vor den gentilen Besonderheiten und der sozialen Gemeinsamkeit indi-
gener Herkunft vor ständischer Ungleichheit entsprach dem beruflichen Bedürfnis
dieser Elite. Funktional trat sie die Nachfolge der hochmittelalterlichen ritterhch-
ministerialischen Elite an, deren Selbstverständnis als Deutsche in der Traditionser-
 
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