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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Antrittsreden
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Wyss, Beat: Antrittsrede vom 13. Juli 2002
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0113
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124 | ANTRITTSREDEN

fernt, doch damals waren das Welten. Metropolitan kam mir die blauweiße Stadt an
der Limmat vor, etwas arrogant, mir Provinzler, die Eleganz an der Bahnhofstraße,
von der selbst die Hippies und Mods angesteckt schienen, mithin Jugendliche mei-
nes Alters, die in einer mir unnachahmlichen Blasiertheit die Moden aus King’s
Road trugen, als wären sie Ebenbilder der Rockstars aus England. Doch nicht nur
das Leben auf der Straße musste von Grund auf neu erlernt werden, auch an der
Universität begegnete ich einem Umgang, der mich - Erstsemester 1967, im Jahr
Null der Revolution! — fürs erste einmal mundtot machte. Da waren jene Kommi-
litionen, die nicht nur das Grundstudium schon hinter sich hatten, sondern auch
jenen unverkennbaren soziologischen Jargon in einer Weise beherrschten, den man
schlafwandlerisch hätte nennen könnte, wäre er nicht so laut und unerbittlich vor-
getragen worden. Neben kunstgeschichtlichen Proseminarien galt es, auch die obli-
gaten „Das Kapital“-Kurse zu besuchen. Ich absolvierte sie pflichtschuldig; aller-
dings, wenn ich mein dreibändiges Exemplar vom Ostberliner Dietz-Verlag jetzt
konsultiere, jenes mit den blauen Buchdeckeln, die jedes Ikea-Regal von Wohn-
gemeinschaften der siebziger Jahre zu zieren pflegte, so darf ich vielleicht heute,
Gnade der späten Zeit, gestehen, dass sich die Anstreichungen bereits im ersten Band,
dritten Abschnitt: „Die Produktion des absoluten Mehrwerts, fünftes Kapitel: Arbeits-
prozess und Verwertungsprozess“ allmählich dünner werden, um Seite 201 dann
gänzlich zu versiegen.
Jede Generation tritt ihre Sendung an, indem sie die Fehler der vorangehen-
den korrigiert und dabei neue Fehler macht. Diese Regel gilt in der Kindererzie-
hung so gut wie in der Wissenschaft. Man kann, mit Alexander Mitscherlich, die
68-er Generation als vaterlose kennzeichnen. Während die leiblichen und univer-
sitären Väter als unpolitische oder schlimmer: gar als politische Mitläufer der Natio-
nalsozialisten gebrandmarkt wurden, idealisierte man die Großväter, mithin die
Generation, welche intellektuell in den zwanziger und dreißiger Jahre jung gewesen
waren. Dementsprechend gespenstisch kamen die gesellschaftspolitischen Analysen
der Neulinken heraus, die, vaterlos zwar, doch als gute Enkel in wiedergängerischer
Weise an den Unterdrücktenjugendentwürfen Ernst Blochs,Walter Benjamins und
Theodor W. Adornos Wiedergutmachung übten.
Die Studentenbewegung vollzog bei allem intellektuellen Brimborium einen
notwendigen Akt der Trauerarbeit an den Utopien der Moderne. In der Geistes-
geschichte kam es zu einer folgenreichen Revision des Bildungskanons, der für die
Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit ebenso notwendig wie für die Bildungsmise-
re heute mitverantwortlich ist. Im Fach Kunstgeschichte ergaben sich drei neue For-
schungsinteressen: Ideologiekritik, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der Kunst,
sowie die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Sind einige Publikationen im Geist
der Ideologiekritik heute vielleicht nur noch von Interesse als Dokumente wissen-
schaftlicher Irrungen, so haben die sozialgeschichtlichen Fragestellungen zur Rolle
des Künstlers, zu Auftraggeberschaft und Publikum in den klassischen Feldern des
Mittelalters und der Neuzeit fruchtbare Impulse gegeben. Mich als Modernisten zog
es zum dritten neuen Forschungsfeld: den weißen Flecken der Kunstgeschichte.
Hatte noch für die Generation von Hans Sedlmayr mit dem Rokoko der Verlust der
 
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