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ANTRITTSREDEN
Meiner ersten Torheit, dem Verzicht auf die damals noch sichere Studienrats-
perspektive, folgte als zweite Torheit, daß ich bei ziemlich vielen Dozenten fast alle
Epochen und Disziplinen der Philosophie studierte (und noch in vieles andere hin-
einschmeckte). Noch einmal mit Pascals zuspitzendem Pathos: „Se moquer de la
philosophie, c’est vraiment philosopher.“ Zu Deutsch: Ein kluger Student der Phi-
losophie lege sich nicht zu früh auf eine der philosophischen Schulen fest und halte
sich stets für außerphilosophische Erfahrung offen.
Auf die Frage, welche Dozenten mich beeindruckt haben, kann ich unfair
selektiv nur wenige nennen: In Münster schlich ich mich in die letzten Obersemi-
nare des Aristoteles- und Hegelfachmanns Joachim Ritter, der sich damals mit
Hegels Rechtsphilosophie befaßte. Bei Kurt von Raumer, einem Historiker also und
nicht etwa Kant, lernte ich das Stichwort für eine globale Rechtsordnung „Ewiger
Friede“ kennen. Der spätere Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation mach-
te mit einer nichtthomistischen, stark dem Neuen Testament zugewandten Dogma-
tik vertraut. Im kurzen Gastspiel Tübingen (1965/1966), bei Walter Schulz, der übri-
gens auch aus Oberschlesien, sogar dem Nachbarort, stammt, lernte ich einen der
Philosophen kennen, in dessen Tradition das erste Pascal-Wort steht: Nikolaus von
Kues mit der Schrift Idiota de mente. In ihr belehrt der schulphilosophische Tor, der
Laie, den Philosophen über den Geist. Außerdem hörte ich den evangelischen Theo-
logen Ebeling, den Juristen und Verfasser der EKD-Denkschrift Raiser, den Altphilo-
logen, auch Goethe-Forscher Schadewaldt, den Historiker Zeeden, auf einer Grie-
chenlandreise der Studienstiftler den Latinisten Zinn und nicht zuletzt meinen Vor-
vorgänger, den Philosophen und Pädagogen Friedrich Bollnow.
Mein Dissertationsthema fand ich schon im fünften Semester, mittlerweile in
Saarbrücken bei Hermann Krings, damals Universitätsrektor und später Präsident des
Deutschen Bildungsrates. In Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, dem ersten Methoden-
exkurs, stehen zwei Sätze, über die man eine epistemische Toleranz lernt, die Pascal
auch meint, wenn er sagt: „Le cceur a ses raisons que la raison ne connait point.“
Aristoteles fordert: typö talethes endeiknysthai: das Wahre grundrißhaft aufzeigen, und
ergänzt to telos estin ou gnösis alla praxis: Es gibt nicht bloß theoretische Wissenschaf-
ten, sondern auch Ethik und Politik, die wiederum nicht aufWissen, sondern Han-
deln zielen. Als Nicht-Altphilologe traute ich mir das Thema freilich zuerst nicht zu.
Ich versuchte es mit Fichtes Staatslehre, liebäugelte sogar damit, zur Rechtswissen-
schaft zu wandern. Die Fichte-Karteikarten aus dieser Zeit harren noch immer einer
Bearbeitung. Bei der Lektüre einer Monographie des damaligen „Fichte-Papstes“,
Reinhard Lauth, stieß ich nämlich auf eifernde Untertöne, die ich bei Fichte wie-
derfand und mich zum nüchternen Aristoteles zurückkehren keßen.
Während des New York-Jahres, bei der Vorbereitung einer Habilitationsschrift
zur „Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse“, später als Strategien der Humanität
veröffentlicht, stieß ich auf das Werk von John Rawls, des wohl bedeutendsten Ver-
treters politischer Ethik im 20. Jahrhundert. Dieser Fast-Zufalls-Fund erwies sich
bald als das genaue Gegenteil von Torheit, denn ich verdanke ihm zweierlei: einen
besseren Verlag, da Jürgen Habermas mich bat, bei Suhrkamp einen Rawls-Band her-
auszugeben, und einen zweiten Ruf. Denn auf eine Rawls-Besprechung in der
ANTRITTSREDEN
Meiner ersten Torheit, dem Verzicht auf die damals noch sichere Studienrats-
perspektive, folgte als zweite Torheit, daß ich bei ziemlich vielen Dozenten fast alle
Epochen und Disziplinen der Philosophie studierte (und noch in vieles andere hin-
einschmeckte). Noch einmal mit Pascals zuspitzendem Pathos: „Se moquer de la
philosophie, c’est vraiment philosopher.“ Zu Deutsch: Ein kluger Student der Phi-
losophie lege sich nicht zu früh auf eine der philosophischen Schulen fest und halte
sich stets für außerphilosophische Erfahrung offen.
Auf die Frage, welche Dozenten mich beeindruckt haben, kann ich unfair
selektiv nur wenige nennen: In Münster schlich ich mich in die letzten Obersemi-
nare des Aristoteles- und Hegelfachmanns Joachim Ritter, der sich damals mit
Hegels Rechtsphilosophie befaßte. Bei Kurt von Raumer, einem Historiker also und
nicht etwa Kant, lernte ich das Stichwort für eine globale Rechtsordnung „Ewiger
Friede“ kennen. Der spätere Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation mach-
te mit einer nichtthomistischen, stark dem Neuen Testament zugewandten Dogma-
tik vertraut. Im kurzen Gastspiel Tübingen (1965/1966), bei Walter Schulz, der übri-
gens auch aus Oberschlesien, sogar dem Nachbarort, stammt, lernte ich einen der
Philosophen kennen, in dessen Tradition das erste Pascal-Wort steht: Nikolaus von
Kues mit der Schrift Idiota de mente. In ihr belehrt der schulphilosophische Tor, der
Laie, den Philosophen über den Geist. Außerdem hörte ich den evangelischen Theo-
logen Ebeling, den Juristen und Verfasser der EKD-Denkschrift Raiser, den Altphilo-
logen, auch Goethe-Forscher Schadewaldt, den Historiker Zeeden, auf einer Grie-
chenlandreise der Studienstiftler den Latinisten Zinn und nicht zuletzt meinen Vor-
vorgänger, den Philosophen und Pädagogen Friedrich Bollnow.
Mein Dissertationsthema fand ich schon im fünften Semester, mittlerweile in
Saarbrücken bei Hermann Krings, damals Universitätsrektor und später Präsident des
Deutschen Bildungsrates. In Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, dem ersten Methoden-
exkurs, stehen zwei Sätze, über die man eine epistemische Toleranz lernt, die Pascal
auch meint, wenn er sagt: „Le cceur a ses raisons que la raison ne connait point.“
Aristoteles fordert: typö talethes endeiknysthai: das Wahre grundrißhaft aufzeigen, und
ergänzt to telos estin ou gnösis alla praxis: Es gibt nicht bloß theoretische Wissenschaf-
ten, sondern auch Ethik und Politik, die wiederum nicht aufWissen, sondern Han-
deln zielen. Als Nicht-Altphilologe traute ich mir das Thema freilich zuerst nicht zu.
Ich versuchte es mit Fichtes Staatslehre, liebäugelte sogar damit, zur Rechtswissen-
schaft zu wandern. Die Fichte-Karteikarten aus dieser Zeit harren noch immer einer
Bearbeitung. Bei der Lektüre einer Monographie des damaligen „Fichte-Papstes“,
Reinhard Lauth, stieß ich nämlich auf eifernde Untertöne, die ich bei Fichte wie-
derfand und mich zum nüchternen Aristoteles zurückkehren keßen.
Während des New York-Jahres, bei der Vorbereitung einer Habilitationsschrift
zur „Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse“, später als Strategien der Humanität
veröffentlicht, stieß ich auf das Werk von John Rawls, des wohl bedeutendsten Ver-
treters politischer Ethik im 20. Jahrhundert. Dieser Fast-Zufalls-Fund erwies sich
bald als das genaue Gegenteil von Torheit, denn ich verdanke ihm zweierlei: einen
besseren Verlag, da Jürgen Habermas mich bat, bei Suhrkamp einen Rawls-Band her-
auszugeben, und einen zweiten Ruf. Denn auf eine Rawls-Besprechung in der