Eugenio Coseriu | 163
sie ihm auch auf diesem Gebiet hoffnungslos unterlegen gewesen wären, und die
Finger davon ließen. Uber Zulauf von Studenten konnte sich Coseriu also nie bekla-
gen. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die er jeweils zu ganz verschiedenen The-
men arbeiteten ließ, haben dann ein gutes Dutzend Lehrstühle in Deutschland
besetzt.
Wichtig waren in Tübingen vor allem die Vorlesungen. 15 Jahre lang präsen-
tierte er in jedem Semester ein neues Thema: z. B. Geschichte der Sprachphilosophie
(die sich über sechs Semester erstreckte), Geschichte der romanischen Philologie,
Das romanische Verbalsystem, Vulgärlatein, Typologie etc. Studierende schrieben sie
mit und veröffentlichten sie — wobei er sich selbst wenig oder gar nicht darum küm-
merte, wie richtig das Mitgeschriebene war. Aus dieser Publikationstätigkeit entstand
immerhin auch der erfolgreiche Verlag eines ehemaligen Coseriu-Hörers (Gunter
Narr).
Was Coseriu seinen Schülern mitgegeben hat, war vor allem die Fähigkeit zum
selbständigen Arbeiten. Die Prinzipien dafür hat er in der erwähnten Antrittsrede
genannt. Zunächst das aristotelische TOt OVTtt cbg EGTIV XsyElV „die Dinge so sagen,
wie sind sind“. Dann das (hermeneutische) Prinzip, dass der Gegenstand der Kultur-
wissenschaften, gleichgültig ob Sprache oder Kunst, nie von außen erklärt werden
kann, weil wir immer schon wissen müssen, um was es geht. Das Prinzip der Tradi-
tion - niemand beginnt bei Null — besagt, dass das, was vorher war, zur Kenntnis
genommen werden muss, da man immer davon ausgehen darf, dass andere ebenfalls
vernünftig gedacht haben — auch dort, wo sie sich irren. Daraus folgt, auf die Gegen-
wart angewandt, das Prinzip des Anti-Dogmatismus. Schließlich das Prinzip der
sozialen Verantwortung, oder, mit Leibniz: Scientia, quo magis theorica, magis practica.
Coserius Größe zeigt sich gerade auch hier: er hat mit diesen Prinzipien seinen
engeren und entfernteren Schülern auch einen Maßstab und em Vermächtnis mit-
gegeben, das man heute zumal in den Naturwissenschaften, unter dem Rubrum
‘Ethik in der Wissenschaft’ und ‘Regeln guter wissenschaftlicher Praxis’ diskutiert.
WOLFGANG RAIBLE
sie ihm auch auf diesem Gebiet hoffnungslos unterlegen gewesen wären, und die
Finger davon ließen. Uber Zulauf von Studenten konnte sich Coseriu also nie bekla-
gen. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler, die er jeweils zu ganz verschiedenen The-
men arbeiteten ließ, haben dann ein gutes Dutzend Lehrstühle in Deutschland
besetzt.
Wichtig waren in Tübingen vor allem die Vorlesungen. 15 Jahre lang präsen-
tierte er in jedem Semester ein neues Thema: z. B. Geschichte der Sprachphilosophie
(die sich über sechs Semester erstreckte), Geschichte der romanischen Philologie,
Das romanische Verbalsystem, Vulgärlatein, Typologie etc. Studierende schrieben sie
mit und veröffentlichten sie — wobei er sich selbst wenig oder gar nicht darum küm-
merte, wie richtig das Mitgeschriebene war. Aus dieser Publikationstätigkeit entstand
immerhin auch der erfolgreiche Verlag eines ehemaligen Coseriu-Hörers (Gunter
Narr).
Was Coseriu seinen Schülern mitgegeben hat, war vor allem die Fähigkeit zum
selbständigen Arbeiten. Die Prinzipien dafür hat er in der erwähnten Antrittsrede
genannt. Zunächst das aristotelische TOt OVTtt cbg EGTIV XsyElV „die Dinge so sagen,
wie sind sind“. Dann das (hermeneutische) Prinzip, dass der Gegenstand der Kultur-
wissenschaften, gleichgültig ob Sprache oder Kunst, nie von außen erklärt werden
kann, weil wir immer schon wissen müssen, um was es geht. Das Prinzip der Tradi-
tion - niemand beginnt bei Null — besagt, dass das, was vorher war, zur Kenntnis
genommen werden muss, da man immer davon ausgehen darf, dass andere ebenfalls
vernünftig gedacht haben — auch dort, wo sie sich irren. Daraus folgt, auf die Gegen-
wart angewandt, das Prinzip des Anti-Dogmatismus. Schließlich das Prinzip der
sozialen Verantwortung, oder, mit Leibniz: Scientia, quo magis theorica, magis practica.
Coserius Größe zeigt sich gerade auch hier: er hat mit diesen Prinzipien seinen
engeren und entfernteren Schülern auch einen Maßstab und em Vermächtnis mit-
gegeben, das man heute zumal in den Naturwissenschaften, unter dem Rubrum
‘Ethik in der Wissenschaft’ und ‘Regeln guter wissenschaftlicher Praxis’ diskutiert.
WOLFGANG RAIBLE