Ahmet Cavuldak
Kielmansegg kein Selbstzweck, wie sie heute an den Universitäten im Zuge der
disziplinären Arbeitsteilung leider oft verstanden und betrieben wird; sie interes-
sierte ihn tatsächlich nur, insofern sie Antworten geben konnte auf die Legitimi-
tätsfrage der modernen Demokratie.
Auch in dem erwähnten Locke-Seminar ging es um die Begründung poli-
tischer Herrschaft in einem demokratischen Rechtsstaat. Ich erlaube mir doch
noch ein paar Bemerkungen über den Seminarverlauf, soweit ich ihn aus mei-
nen Notizen und meinem Erinnerungsvermögen rekonstruieren kann, um Graf
Kielmanseggs Lehrstil zu würdigen. In der ersten Sitzung hat Graf Kielmansegg
den historischen Kontext Englands im 17. Jahrhundert mit einem ausgeprägten
Sinn für das Wesentliche vergegenwärtigt, danach haben wir Lockes „Zweite Ab-
handlung über die Regierung“ systematisch gelesen, im Einzelnen gesprochen
über Naturzustand, Eigentum, Gewaltenteilung, Widerstandsrecht, anschließend
letzteres - also das Widerstandsrecht - als das zentrale Argumentationsanliegen
Lockes ausfindig gemacht, schließlich uns dann in vier Sitzungen mit unter-
schiedlichen Interpretationsansätzen der Locke-Forschung auseinandergesetzt;
namentlich mit den Lesarten von John Dünn, Crawford MacPhersons, Martin
Seliger und Manfred Brocker. Als in der Diskussion eine dieser Lesarten, diejenige
Macphersons, von den Studenten heftig kritisiert wurde, sagte Graf Kielmansegg,
vor zwei oder drei Jahrzehnten sei dies noch ganz anders gewesen; damals hätten
die Studenten nämlich vor allem Macphersons These vom Besitzindividualismus
plausibel gefunden, weil die neo-marxistische Kapitalismuskritik en vogue gewe-
sen sei. Doch solle man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, gab Graf Kiel-
mansegg zu bedenken; alle genannten Autoren, eben auch Macpherson hätten in
ihren ideengeschichtlichen Arbeiten einen wesentlichen Aspekt des politischen
Denkens von Locke im Kontext seiner Epoche erfasst. Die Sozialwissenschaft
sei nun einmal auch eine Kunst der Übertreibung; daher müsse man die einzel-
nen Interpretationen ein Stück weit relativieren, um zu einem gerechten Urteil
über den Autor und dessen Werk zu gelangen. In diesem Zusammenhang stellte
Graf Kielmansegg einige grundsätzliche Überlegungen über die Natur der Er-
kenntnisse in den Sozialwissenschaften an. Er machte in wenigen Sätzen klar,
dass man Politikwissenschaft nicht verstehen und betreiben kann wie Physik, da
sie über eine normative Dimension verfügt, der man mit Zahlen und anderen
Mitteln der empirischen Datenerhebung nicht „gerecht“ werden kann. Der ad-
äquate wissenschaftliche Umgang mit bzw. Zugang zu Politik bestehe letztlich
in einer auf Vernunft und Erfahrung gestützten Verständigung darüber, wie eine
gute, dem Menschen bekömmliche politische Ordnung gestaltet sein müsse. Da
aber das, was Vernunft und Erfahrung gebieten, keineswegs auf der Hand liegt,
wie Philosophen es gerne hätten und bisweilen auch frohen Mutes behaupten,
sondern in einem weiten und dunklen Feld zerstreut ist, das wir einfachheits-
halber Geschichte nennen, müssen wir um jedwede Orientierung ringen. Graf
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Kielmansegg kein Selbstzweck, wie sie heute an den Universitäten im Zuge der
disziplinären Arbeitsteilung leider oft verstanden und betrieben wird; sie interes-
sierte ihn tatsächlich nur, insofern sie Antworten geben konnte auf die Legitimi-
tätsfrage der modernen Demokratie.
Auch in dem erwähnten Locke-Seminar ging es um die Begründung poli-
tischer Herrschaft in einem demokratischen Rechtsstaat. Ich erlaube mir doch
noch ein paar Bemerkungen über den Seminarverlauf, soweit ich ihn aus mei-
nen Notizen und meinem Erinnerungsvermögen rekonstruieren kann, um Graf
Kielmanseggs Lehrstil zu würdigen. In der ersten Sitzung hat Graf Kielmansegg
den historischen Kontext Englands im 17. Jahrhundert mit einem ausgeprägten
Sinn für das Wesentliche vergegenwärtigt, danach haben wir Lockes „Zweite Ab-
handlung über die Regierung“ systematisch gelesen, im Einzelnen gesprochen
über Naturzustand, Eigentum, Gewaltenteilung, Widerstandsrecht, anschließend
letzteres - also das Widerstandsrecht - als das zentrale Argumentationsanliegen
Lockes ausfindig gemacht, schließlich uns dann in vier Sitzungen mit unter-
schiedlichen Interpretationsansätzen der Locke-Forschung auseinandergesetzt;
namentlich mit den Lesarten von John Dünn, Crawford MacPhersons, Martin
Seliger und Manfred Brocker. Als in der Diskussion eine dieser Lesarten, diejenige
Macphersons, von den Studenten heftig kritisiert wurde, sagte Graf Kielmansegg,
vor zwei oder drei Jahrzehnten sei dies noch ganz anders gewesen; damals hätten
die Studenten nämlich vor allem Macphersons These vom Besitzindividualismus
plausibel gefunden, weil die neo-marxistische Kapitalismuskritik en vogue gewe-
sen sei. Doch solle man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, gab Graf Kiel-
mansegg zu bedenken; alle genannten Autoren, eben auch Macpherson hätten in
ihren ideengeschichtlichen Arbeiten einen wesentlichen Aspekt des politischen
Denkens von Locke im Kontext seiner Epoche erfasst. Die Sozialwissenschaft
sei nun einmal auch eine Kunst der Übertreibung; daher müsse man die einzel-
nen Interpretationen ein Stück weit relativieren, um zu einem gerechten Urteil
über den Autor und dessen Werk zu gelangen. In diesem Zusammenhang stellte
Graf Kielmansegg einige grundsätzliche Überlegungen über die Natur der Er-
kenntnisse in den Sozialwissenschaften an. Er machte in wenigen Sätzen klar,
dass man Politikwissenschaft nicht verstehen und betreiben kann wie Physik, da
sie über eine normative Dimension verfügt, der man mit Zahlen und anderen
Mitteln der empirischen Datenerhebung nicht „gerecht“ werden kann. Der ad-
äquate wissenschaftliche Umgang mit bzw. Zugang zu Politik bestehe letztlich
in einer auf Vernunft und Erfahrung gestützten Verständigung darüber, wie eine
gute, dem Menschen bekömmliche politische Ordnung gestaltet sein müsse. Da
aber das, was Vernunft und Erfahrung gebieten, keineswegs auf der Hand liegt,
wie Philosophen es gerne hätten und bisweilen auch frohen Mutes behaupten,
sondern in einem weiten und dunklen Feld zerstreut ist, das wir einfachheits-
halber Geschichte nennen, müssen wir um jedwede Orientierung ringen. Graf
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