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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2017 an das Ehepaar Jan und Aleida Assmann
DOI Artikel:
Assmann, Aleida: Über Erinnerung und Wahrheit, Medien und Öffentlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0123
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2017 an Jan und Aleida Assmann

vom Schrecken“ und weigerten sich, zurückzublicken. Mythische Gestalten wie
Orpheus oder Lots Weib verkörpern die Gefahren, die der Blick zurück enthalten
kann. Im Gegensatz dazu mussten die Deutschen, so Jaspers, den Blick zurück ler-
nen, um wahrhaftig und frei zu werden. Der Jugend müsse, so forderte er, „gezeigt
werden, was geschehen ist und dass wir Menschen die Folgen der Handlungen
unserer Eltern und Voreltern im Guten wie im Schlimmen übernehmen müssen.
Eltern (dürfen) ihre Kinder nicht bewahren wollen vor schrecklichen Kenntnis-
sen. Vergessen verhindert mit der Wahrheit die politische Erziehung. (...) Nur
durch bewusste Umkehr der politischen Denkungsart können wir unsere Freiheit
gewinnen.“1
Ich nenne diese „bewusste Umkehr der politischen Denkungsart“ den „Tren-
nungsstrich“, den wir als Deutsche heute zwischen uns und der NS-Vergangenheit
ziehen. Der Trennungsstrich ist das genaue Gegenteil des Schlussstrichs. Schluss-
strich war die Parole der Adenauerzeit: Lasst die Vergangenheit hinter euch, kon-
zentriert euch auf die Zukunft, allein darin liegt die Befreiung und die große
Chance der Deutschen in einem neuen Europa. Churchill war derselben Mei-
nung: 1946 forderte er: „Wenn Europa von endlosem Unheil und endgültigem
Untergang gerettet werden soll, müssen wir es auf einen Akt des Glaubens an die
europäische Familie und einen Akt des Vergessens aller Verbrechen und Irrtümer
der Vergangenheit gründen.“2
Eine Generation nach Jaspers Rede stand noch alles auf der Kippe: 1985 im
Zuge der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Kriegsendes wollten Kohl und
Reagan mit ihrer Zeremonie auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg noch einmal
den Schlussstrich besiegeln. Nur drei Tage später plädierte Präsident Richard von
Weizsäcker in seiner berühmten Rede für Erinnerung: „Das Vergessenwollen ver-
längert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Mithilfe von
Vergessen hatten die Westdeutschen gehofft, mit sich ins Reine zu kommen, aber
in den 1980er Jahren wurde immer deutlicher, dass das Schweigen und Vergessen
zugleich die Stimmen und Erinnerungen der Opfer ausschloss, die kein Gehör
fanden. Seither gründen die Deutschen ihr kollektives Selbstbild auf ein „negatives
Gedächtnis“, nämlich die Erinnerung an monströse Verbrechen, die von der eige-
nen Nation in der Geschichte begangen worden waren. Das ist historisch etwas
absolut Neues. Für die Kriegs-Generation war diese Haltung nicht zustimmungs-
fähig, und es gibt immer Menschen in diesem Land, die sich wie Bernd Hocke
nicht damit abfmden können. Sie sprechen von Schande und wünschen sich eine
Nation, die auf Stolz und Stärke setzt. Jaspers dagegen sprach von Verantwortung

1 Karl Jaspers, Wahrheit, Freiheit, Friede, in: Friedenspreisrede 1958, S. 10.
2 Randolph S. Churchill (ed.), The Sinews of Peace. Post-War Speeches by Winston S. Chur-
chill, London: Cassell 1948, 200. (Übersetzung A. A.)

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