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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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III. Veranstaltungen
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Mitarbeitervortragsreihe „Wir forschen. Für Sie“
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Grätz, Katharina: »Barbar des Geistes« oder »grosser Wohltäter«?: Lutherdeutungen in Nietzsches Texten
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0148
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III. Veranstaltungen

zufolge Luther dafür verantwortlich sei, dass die „große Kultur-Ernte“ der Renais-
sance nicht eingebracht werden konnte. Aber nicht etwa, weil er dies als bewusst
handelndes Subjekt verhinderte, sondern aus Verkennung der historischen Situ-
ation. Denn wo Luther aufgrund seiner pathologischen psychischen Disposition
nur die Verkommenheit der katholischen Kirche und des Papsttums sehen konn-
te, hatte sich tatsächlich - so Nietzsches Interpretation - die Renaissance in ihrer
lebensbejahenden Kraft entfaltet. Nietzsche führt die Vorstellung von Luther als
einem geschichtsmächtigen Individuum ad absurdum, indem er die Wurzel der
Reformationsbewegung in psychologisierendcr Manier auf Minderwertigkeitsge-
fühle Luthers zurückführt. Die Reformation entspringt demnach der persönlichen
Schwäche des Reformators, sie entsteht als Rache des kleinen Mönchs am Leben.
Der Angriff der Reformation auf die katholische Kirche, so die ironische Pointe,
habe aber letztlich zu deren Konsolidierung geführt. Luther, die nationale kultur-
protestantische Identifikationsfigur des Bürgertums im 19. Jahrhundert, wird also
bei Nietzsche in einer ebenso kühnen wie bösartigen Umdeutung zum Retter des
Katholizismus erklärt.
Mit seinen radikalen und eben auch radikal vereinseitigenden Zügen ist
Nietzsches Lutherbild bezeichnend für einen Grundzug seines Umgangs mit der
Geschichte. Er vereinfacht, typisiert, spekuliert auf der Basis von Vorannahmen
und Vorurteilen - er benutzt die historische Persönlichkeit wie eine Spielfigur,
um an ihr seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Dabei dient ihm das historische
Individuum als überindividueller Repräsentant historischer Entwicklungen.
Doch quer zu den Simplifizierungen und plakativen Zuspitzungen gibt es
auch gegenläufige Strategien in Nietzsches Umgang mit Luther zu beobachten.
Eine Leistung Luthers hat Nietzsche nicht bloß nie bestritten, sondern sich im Ge-
genteil bemüht, selbst produktiv daran anzuschließen: Luthers Bibelübersetzung,
deren Sprachgewalt er von der frühen bis in die späte Zeit in höchsten Tönen lobt:
„unser einziges Buch [ist] immer noch die Bibel“, heißt es etwa in einem nachge-
lassenen Notat von 1884. Freilich erhebt Nietzsche, und da zeigt sich dann wieder
die für ihn charakteristische Überbieter-Geste, mit seinem Zarathustra, den er denn
auch als 5. Evangelium bezeichnet hat, den Anspruch, nicht nur die Nachfolge,
sondern die Überbietung der Bibel angetreten zu haben: „Die Sprache Luthers
und die poetische Form der Bibel als Grundlage einer neuen deutschen Poesie: -
das ist meine Erfindung“, heißt es in einem nachgelassenen Notat.
Allerdings gibt es in Nietzsches Texten nicht nur großspurige Gesten und
verabsolutierende Zu- und Festschreibungen, sondern es begegnet in ihnen auch
ein ganzes Spektrum literarischer Strategien, die umgekehrt eine hypothetische,
fragende, relativierende und ironische Haltung auszeichnet und die damit gerade
alle Festschreibungen unterlaufen. In der Fröhlichen Wissenschaft findet sich unter
der Überschrift Die Bedingungen Gottes folgender Aphorismus:

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