Akademievorlesung von Arnold Esch
und Frankreich Bordeaux verteidigt werden musste ...“ (das ist die Endphase des
Hundertjährigen Krieges); „Als ich in der Schlacht von Pavia kämpfte, in der mein
König (Franz I. von Frankreich, 1525) gefangengenommen wurde, da gelobte ich
mitten im Gefecht, wenn ich da heil wieder herauskäme ...“. Oder: „Als die Hus-
siten Prag in der Hand hatten und fast 600 Gefangene enthaupteten, da kam eine
Frau, eine Hussitin, in das Haus, wo ich mit zwei anderen gefesselt lag, und sagte:
»Wenn Du mich heiratest, dann versteck ich Dich; wenn nicht, wirst Du enthaup-
tet wie diese beiden«“. Die Geschichtsschreibung wird in ihrer Darstellung viel-
leicht bis auf die 600 Enthaupteten hinunterreichen - die Drei da im Keller wird
sie nicht wahrnehmen (es geht ja auch gar nicht anders). Einzelschicksale sinken
unter den Horizont unserer Wahrnehmung. Außer in dieser Quelle.
Noch ein Beispiel von Einbettung individuellen Schicksals in großes Gesche-
hen, denn solche Fälle zeigen besonders deutlich die Spannweite, die in diesen un-
scheinbaren Episoden eingeschlossen sein kann. Da berichtet ein Johanniter, wie
er bei der schrecklichen Belagerung von Rhodos durch die Türken 1480 (schon
die nächste Belagerung werden die Johanniter nicht mehr durchstehen und nach
Malta ziehen, zu Malteserrittern werden) als Artilleriebeobachter auf einem Kirch-
turm postiert wurde, um die Schüsse der Türken zu verfolgen und zu melden, und
wie der Turm dann selbst getroffen wurde und zusammenbrach. Dieser Mann will
uns nicht die Belagerung von Rhodos erzählen - aber er muss es, um sein Anliegen
zu begründen: denn er hatte dabei ein Auge verloren, ein künftiger Priester musste
aber unversehrten Leibes sein. Darum sein Antrag und seine Schilderung. Wir
kennen diese berühmte Belagerung aus dem vielgelesenen Bericht des Ordens-
Vizekanzlers Guillaume Caoursin - aber hier haben wir sie einmal aus der Pers-
pektive eines einfachen Mitkämpfenden: „Große“ Geschichte beschrieben aus der
niedrigen Augenhöhe der kleinen Opfer, der kleinen Täter, die „dabei gewesen“
waren. Das ist nicht selbst schon Geschichte, aber es ist die Substanz, aus der Ge-
schichte gemacht ist: Menschenleben.
Nicht, dass nicht auch große historische Personen aufträten, sogar eine Köni-
gin von England, Margarete von Anjou, die in den schrecklichen englischen „Ro-
senkriegen“ auf Seiten der Roten Rose, der Lancaster-Partei, eine führende Rolle
spielte - und von Shakespeare in mehreren seiner Königsdramen mit rasanten
Auftritten geehrt wird. „O Tigerherz in Weiberhaut gesteckt“: das ist Königin Mar-
garete bei Shakespeare (Heinrich VI., III. Teil, 1. Akt, 4. Szene). Aber hier lernen
wir sie ganz anders kennen. Denn nun ist sie gefangen und wendet sich mit einem
Anliegen an den Papst: Sie sei einst Königin von England gewesen, olim regina An-
glie, nun aber in den Händen ihrer Feinde (nämlich der Weißen Rose, York), und
von so schwachem Befinden, dass sie die Fastengebote nicht mehr durchhalten
könne und um Befreiung bitte. Auch die Großen erleben wir in dieser Quelle
nicht in ihrer Stärke, sondern in ihrer Schwäche. Eine Königin mitten unter all den
anderen. Aber die Kirche fragte hier nicht nach dem sozialen Rang und nach der
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und Frankreich Bordeaux verteidigt werden musste ...“ (das ist die Endphase des
Hundertjährigen Krieges); „Als ich in der Schlacht von Pavia kämpfte, in der mein
König (Franz I. von Frankreich, 1525) gefangengenommen wurde, da gelobte ich
mitten im Gefecht, wenn ich da heil wieder herauskäme ...“. Oder: „Als die Hus-
siten Prag in der Hand hatten und fast 600 Gefangene enthaupteten, da kam eine
Frau, eine Hussitin, in das Haus, wo ich mit zwei anderen gefesselt lag, und sagte:
»Wenn Du mich heiratest, dann versteck ich Dich; wenn nicht, wirst Du enthaup-
tet wie diese beiden«“. Die Geschichtsschreibung wird in ihrer Darstellung viel-
leicht bis auf die 600 Enthaupteten hinunterreichen - die Drei da im Keller wird
sie nicht wahrnehmen (es geht ja auch gar nicht anders). Einzelschicksale sinken
unter den Horizont unserer Wahrnehmung. Außer in dieser Quelle.
Noch ein Beispiel von Einbettung individuellen Schicksals in großes Gesche-
hen, denn solche Fälle zeigen besonders deutlich die Spannweite, die in diesen un-
scheinbaren Episoden eingeschlossen sein kann. Da berichtet ein Johanniter, wie
er bei der schrecklichen Belagerung von Rhodos durch die Türken 1480 (schon
die nächste Belagerung werden die Johanniter nicht mehr durchstehen und nach
Malta ziehen, zu Malteserrittern werden) als Artilleriebeobachter auf einem Kirch-
turm postiert wurde, um die Schüsse der Türken zu verfolgen und zu melden, und
wie der Turm dann selbst getroffen wurde und zusammenbrach. Dieser Mann will
uns nicht die Belagerung von Rhodos erzählen - aber er muss es, um sein Anliegen
zu begründen: denn er hatte dabei ein Auge verloren, ein künftiger Priester musste
aber unversehrten Leibes sein. Darum sein Antrag und seine Schilderung. Wir
kennen diese berühmte Belagerung aus dem vielgelesenen Bericht des Ordens-
Vizekanzlers Guillaume Caoursin - aber hier haben wir sie einmal aus der Pers-
pektive eines einfachen Mitkämpfenden: „Große“ Geschichte beschrieben aus der
niedrigen Augenhöhe der kleinen Opfer, der kleinen Täter, die „dabei gewesen“
waren. Das ist nicht selbst schon Geschichte, aber es ist die Substanz, aus der Ge-
schichte gemacht ist: Menschenleben.
Nicht, dass nicht auch große historische Personen aufträten, sogar eine Köni-
gin von England, Margarete von Anjou, die in den schrecklichen englischen „Ro-
senkriegen“ auf Seiten der Roten Rose, der Lancaster-Partei, eine führende Rolle
spielte - und von Shakespeare in mehreren seiner Königsdramen mit rasanten
Auftritten geehrt wird. „O Tigerherz in Weiberhaut gesteckt“: das ist Königin Mar-
garete bei Shakespeare (Heinrich VI., III. Teil, 1. Akt, 4. Szene). Aber hier lernen
wir sie ganz anders kennen. Denn nun ist sie gefangen und wendet sich mit einem
Anliegen an den Papst: Sie sei einst Königin von England gewesen, olim regina An-
glie, nun aber in den Händen ihrer Feinde (nämlich der Weißen Rose, York), und
von so schwachem Befinden, dass sie die Fastengebote nicht mehr durchhalten
könne und um Befreiung bitte. Auch die Großen erleben wir in dieser Quelle
nicht in ihrer Stärke, sondern in ihrer Schwäche. Eine Königin mitten unter all den
anderen. Aber die Kirche fragte hier nicht nach dem sozialen Rang und nach der
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