Nachruf auf M. Rainer Lepsius
historisch und strukturell vergleichend zu analysieren sind. Er wollte keine Exoti-
sierung der beiden deutschen Diktaturen, aber auch keine zu starken Annahmen
über Interdependenz, Diskontinuität, Integration und Isolation der betrachteten
Regime. Der Nationalstaat diente ihm zwar als Bezugsrahmen für das Problem der
Demokratisierung, aber immer in der Verflechtung in das internationale System.
Die Suche nach den Strukturbedingungen und Funktionsweisen politischer Herr-
schaft - das hatte er in New York, wo er auch viele deutsche Emigranten traf, an der
Columbia University bei Merton und Lazarsfeld gelernt - blieb bei seiner Analyse
der Entwicklung Deutschlands in Europa auf seiner Agenda. Aber er verstand den
„strukturell-funktionalen“ Ansatz heuristisch, nicht inhaltlich, nicht gemäß der so
bezeichneten Theorie. Es war denn auch weniger Robert K. Merton als vielmehr
Reinhard Bendix, der seinem Ansatz gemäß war. Aber seine professionelle Schu-
lung, wie er dies selbst nannte, erhielt er doch hauptsächlich in New York. Vor
allem aber beeindruckte ihn das intellektuelle Milieu, das von den aus Deutsch-
land und Europa vertriebenen Sozialwissenschaftlern bestimmt wurde, die an der
New School for Social Research versammelt waren. Die Frage, was dieser Exodus
für die Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie bedeutete, ließ ihn denn
auch nicht mehr los.
Die Fallanalyse verlangte nicht nur umfassende historische Kenntnisse, son-
dern auch theoretische Innovationen. Drei greife ich heraus. Für die Analyse der
Interessen bedurfte es einer Eiweiterung der Klassenanalyse. Rainer Lepsius fügte
der Weberschen Unterscheidung von Besitz- und Erwerbsklasse die Versorgungs-
klasse hinzu. Er nahm auch die Karl Marx zugeschriebene Unterscheidung zwi-
schen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ auf und erweiterte den Begriff der
„Klasse für sich“, inspiriert durch Theodor Geiger, um den Begriff des sozialmora-
lischen Milieus, mit dessen Hilfe er das vorindustriell konstituierte deutsche Par-
teiensystem von der Reichsgründung bis zum Untergang der Weimarer Republik
in seiner Versäulung untersuchte. Er verband dies mit der These, dass struktu-
rell bedingte Interessenlagen sich keineswegs immer umstandslos in politisches
Handeln übersetzen, sondern dieses noch durch intermediäre Mechanismen und
institutionalisierte kulturelle Muster (Ordnungsvorstellungen) vermittelt ist. Für
die für ihn zentrale Analyse von Institutionen entwickelte er eine Theorie der Leit-
ideen und der ihnen entsprechenden Rationalitätskriterien, um sowohl die Diffe-
renzierung von Institutionen als auch den möglichen Konflikt zwischen ihnen zu
untersuchen. Für ihn stand der Institutionenkampf gleichrangig neben dem Klas-
senkampf. Für die Analyse von (kollektiven) politischen Ideen klärte er zuerst das
Verhältnis von Staat und Nation und die verschiedenen Deutungen des Begriffs
der Nation: als Volksnation (ethnische Gemeinschaft), Kulturnation (transpoliti-
sche Schrift- und Sprachgemeinschaft), Klassennation (Gleichheit der Klassenla-
ge) und Staatsbürgernation (Gleichheit der Bürger). Dass die Bundesrepublik sich
allmählich zu einer Staatsbürgernation entwickelte, den Wechsel vom Ethnos zum
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historisch und strukturell vergleichend zu analysieren sind. Er wollte keine Exoti-
sierung der beiden deutschen Diktaturen, aber auch keine zu starken Annahmen
über Interdependenz, Diskontinuität, Integration und Isolation der betrachteten
Regime. Der Nationalstaat diente ihm zwar als Bezugsrahmen für das Problem der
Demokratisierung, aber immer in der Verflechtung in das internationale System.
Die Suche nach den Strukturbedingungen und Funktionsweisen politischer Herr-
schaft - das hatte er in New York, wo er auch viele deutsche Emigranten traf, an der
Columbia University bei Merton und Lazarsfeld gelernt - blieb bei seiner Analyse
der Entwicklung Deutschlands in Europa auf seiner Agenda. Aber er verstand den
„strukturell-funktionalen“ Ansatz heuristisch, nicht inhaltlich, nicht gemäß der so
bezeichneten Theorie. Es war denn auch weniger Robert K. Merton als vielmehr
Reinhard Bendix, der seinem Ansatz gemäß war. Aber seine professionelle Schu-
lung, wie er dies selbst nannte, erhielt er doch hauptsächlich in New York. Vor
allem aber beeindruckte ihn das intellektuelle Milieu, das von den aus Deutsch-
land und Europa vertriebenen Sozialwissenschaftlern bestimmt wurde, die an der
New School for Social Research versammelt waren. Die Frage, was dieser Exodus
für die Entwicklung der deutschen Nachkriegssoziologie bedeutete, ließ ihn denn
auch nicht mehr los.
Die Fallanalyse verlangte nicht nur umfassende historische Kenntnisse, son-
dern auch theoretische Innovationen. Drei greife ich heraus. Für die Analyse der
Interessen bedurfte es einer Eiweiterung der Klassenanalyse. Rainer Lepsius fügte
der Weberschen Unterscheidung von Besitz- und Erwerbsklasse die Versorgungs-
klasse hinzu. Er nahm auch die Karl Marx zugeschriebene Unterscheidung zwi-
schen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ auf und erweiterte den Begriff der
„Klasse für sich“, inspiriert durch Theodor Geiger, um den Begriff des sozialmora-
lischen Milieus, mit dessen Hilfe er das vorindustriell konstituierte deutsche Par-
teiensystem von der Reichsgründung bis zum Untergang der Weimarer Republik
in seiner Versäulung untersuchte. Er verband dies mit der These, dass struktu-
rell bedingte Interessenlagen sich keineswegs immer umstandslos in politisches
Handeln übersetzen, sondern dieses noch durch intermediäre Mechanismen und
institutionalisierte kulturelle Muster (Ordnungsvorstellungen) vermittelt ist. Für
die für ihn zentrale Analyse von Institutionen entwickelte er eine Theorie der Leit-
ideen und der ihnen entsprechenden Rationalitätskriterien, um sowohl die Diffe-
renzierung von Institutionen als auch den möglichen Konflikt zwischen ihnen zu
untersuchen. Für ihn stand der Institutionenkampf gleichrangig neben dem Klas-
senkampf. Für die Analyse von (kollektiven) politischen Ideen klärte er zuerst das
Verhältnis von Staat und Nation und die verschiedenen Deutungen des Begriffs
der Nation: als Volksnation (ethnische Gemeinschaft), Kulturnation (transpoliti-
sche Schrift- und Sprachgemeinschaft), Klassennation (Gleichheit der Klassenla-
ge) und Staatsbürgernation (Gleichheit der Bürger). Dass die Bundesrepublik sich
allmählich zu einer Staatsbürgernation entwickelte, den Wechsel vom Ethnos zum
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