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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2017
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Halfwassen, Jens: Warum ist die negative Theologie für monotheistische Religionen attraktiv?
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0041
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Jens Halfwassen

nauso sinnlich und leibhaftig zu reden wie die Polytheisten. Versteht man unter
Fundamentalismus das Beharren auf der wortwörtlichen Wahrheit von Offen-
barungstexten, dann ist er ein religionsgeschichtliches Dekadenz- und Regressi-
onsphänomen, weil er die Re-Mythisierung des Gottesbegriffs betreibt und damit
die Fundamente des Monotheismus untergräbt.
Absolute Einheit bedeutet konsequent gedacht die Negation aller Bestim-
mungen und Prädikate - das war die Lektion Platons. Für jüdische, christliche und
islamische Platoniker musste darum der Gedanke naheliegen, die Einheit nicht
als Attribut Gottes zu denken, sondern als Gottes reines Wesen. Das bedeutet,
dass auch die metaphysischen Attribute Gottes (wie Allwissenheit, Gerechtigkeit,
Ewigkeit) von der reinen Gottheit noch einmal unterschieden werden müssen. Sie
werden dadurch aber nicht unwahr. Nur betreffen sie nicht die reine Gottheit in
ihrer Transzendenz, sondern ihre Beziehung zur Welt, die in Wahrheit die Bezie-
hung der Welt zu Gott ist. Das bedeutet zugleich, dass sich das übergöttliche Eine
auch der Subjekt-Objekt-Dualität entzieht, in der wir alle gegenständliche Realität
erfassen. Das Eine ist nur noch erreichbar in einer Ekstase des Geistes, in der dieser
transzendierend aus sich selbst heraustritt, um mit dem Absoluten eins zu werden.
So mündet die negative Theologie in Mystik.
Wenn der Gott der affirmativen Theologie nicht die reine Gottheit selbst,
also nicht das Absolute ist, sondern nur dessen metaphysisch vorläufige Weltzu-
gewandtheit, dann eröffnet sich auch die Möglichkeit, die vielen Götter des Poly-
theismus allegorisch als Erscheinungsweisen des transzendenten Einen zu deuten,
als die welthaft differenzierten und vereinzelten Aspekte der göttlichen Weltzu-
wendung.
Eine solche Religionsphilosophie finden wir im Neuplatonismus nach Plotin
und bei Nikolaus von Kues; sie inspirierte noch Hegel und Schelling. Ihre Pointe
besagt, dass jede Religion letztlich das unerkennbare übergöttliche Eine verehrt,
wenn auch jede auf verschiedene Weise. Dann aber kann es gar keine im eigentli-
chen Sinne falsche Religion geben. Vielmehr hat jede Religion auf ihre besondere
Weise an der Wahrheit teil.
Das bedeutet keineswegs, dass alle Religionen gleich sind, und auch nicht,
dass alle gleich wahr sind. Der Vorrang des Monotheismus vor dem Polytheis-
mus bleibt erhalten. Aber die Verschiedenheit der Zugänge zum Einen ist dann
kein Mangel mehr, sondern entspricht dem Reichtum der Erscheinungsweisen
des überreichen Einen. Solange der Vorrang der negativen Theologie festgehal-
ten wird, bleibt es ausgeschlossen, eine bestimmte historische Religion in ihrer
affirmativ-theologischen Dogmatik als die „absolute Religion“ auszuzeichnen -
alle historischen Religionen, auch die monotheistischen, bleiben im „Vorhof des
Einen“. Wer dies begreift, der ist immun gegen die Versuchung des Fundamenta-
lismus.

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