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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Gesamtsitzung am 22. Juni 2017 zu Ehren von Peter Graf Kielmansegg anlässlich seines 80. Geburtstages
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Münkler, Herfried: Was kann die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit historischen Themen lernen?: Graf Kielmanseggs Buch über den Ersten Weltkrieg
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0054
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II. Wissenschaftliche Vorträge

nächst vorsichtig, dann zunehmend dezidiert, die These vorgetragen, es sei kei-
neswegs so gewesen, dass die europäischen Mächte infolge politischer Unbe-
dachtheit und durch die unglücklichen Mechanismen eines Bündnissystems in
den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert seien, sondern das Deutsche Reich habe
ganz systematisch und bedacht auf diesen Krieg hingearbeitet. Einem Bündnis
aus Militaristen und Kapitalisten in Deutschland sei es um den „Griff nach der
Weltmacht“ gegangen, wie der Titel eines von Fritz Fischers Büchern lautet.1
Fischers Arbeiten waren mehr als eine geschichtswissenschaftliche Neu-
beurteilung der Politik des Deutschen Reichs im Jahrzehnt vor Kriegsbeginn,
über die sich die Historiker dann in ihren Fachzeitschriften hermachen konnten,
um diesen und jenen Aspekt der Neuinterpretation zu diskutieren. Sie waren
eine geschichtspolitische Intervention sondergleichen, und als solche wurden
sie auch von den meisten verstanden. Geschichtspolitik - das ist der Gebrauch
historischer Ereignisse und Entwicklungen zu politischen Zwecken, eine Im-
plementierung hegemonialer Deutungsmuster, nichts, was bloß die Fachspezi-
alisten betrifft, sondern ein Versuch, sich in den Besitz der Prägestempel eines
politischen Verbandes zu bringen.2 Man könnte auch in der Begrifflichkeit An-
tonio Gramscis sagen, Geschichtspolitik ist eine der Waffen im Kampf um kul-
turelle Hegemonie.
Bis zum Auftritt Fritz Fischers besaß der Freiburger Historiker Gerhard Rit-
ter mit seinen Arbeiten über den Schlieffenplan und den drei Bänden „Staats-
kunst und Kriegshandwerk“ in Deutschland die Deutungshoheit über den Ersten
Weltkrieg und seine Vorgeschichte.3 Die von Ritter vertretene geschichtspoli-
tische Position lief darauf hinaus, dass das deutsche Militär jenseits politischer
Kontrolle seine eigenen Pläne für einen möglichen Zweifrontenkrieg gemacht
habe und diese Pläne im Juli 1914 eine Selbstläufigkeit entwickelt hätten, die mit
politischen Mitteln nicht mehr aufzuhalten war. Militarismus, das war in Rit-
ters Sicht die Verselbständigung des Militärischen gegenüber der Politik, die Ent-
wicklung von Vorschlägen zur Bearbeitung von Herausforderungen, die allein
der fachlichen Beurteilung durch das Militär folgten und sich nicht länger als

1 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18,
Düsseldorf 1961, weiterhin ders., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik 1911-1914, Düsseldorf
1969, sowie ders., Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Bewältigung eines
historischen Tabus. Aufsätze und Vorträge aus drei Jahrzehnten, Düsseldorf 1977; zu den metho-
dischen Schwächen und Fehlern Fischers vgl. Marc Trachtenberg, The Graft of International
History. A Guide to Method, Princeton und Oxford 2006, S. 67-73.
2 Zum Begriff der Geschichtspolitik vgl. Stefan Troebst, „Geschichtspolitik. Politikfeld, Analy-
serahmen, Streitobjekt“; in: Etienne Frangois u. a. (Hgg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989,
Göttingen 2013, S. 15-34.
3 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland,
3 Bde., München 1954-1968; ders., Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956.

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